Reine literarische Seide

PoschenriederWährend der erste Weltkrieg bald ein Jahr andauert zieht am 06. Juni 1915 ein junger, gut gekleideter Mann durch die Straßen Berlins zwischen Tiergarten und Landwehrkanal. Er bleibt nicht lange alleine, denn was er tut, ist ungewöhnlich: ein Griff in die Jackentasche, ein Säckchen kommt zum Vorschein, dessen Inhalt der Unbekannte herausrieseln lässt. Sand ist es, den er, nicht ohne gemurmelte Worte, Zaubersprüchen gleich, mit dem Berliner Sand vermischt.

Sein Tun ist methodisch, der eingeschlagene Weg zielgerichtet. Der Inhalt der Säckchen ist immer unterschiedlichen Aussehens. Je weiter der junge Mann geht, desto mehr Menschen folgen ihm. In diesen Zeiten aber sind größere Menschenansammlungen suspekt. Kurz bevor der Ausgangspunkt, der auch das Ende des Weges markiert, erreicht ist, setzt ein Schupo dem Treiben ein Ende.

„ … Wie kommen Sie dazu, hier Säckchen fremdländischen, um nicht zu sagen, feindlichen Inhalts auszuleeren? …“

Soweit ist es also schon im Kaiserreich: Sandkörner werden als feindlich eingestuft, weil sie dem früher verbundenen, nun aber verfeindeten italienischen Boden entstammen. Dem Schupo kann der Fremde nur mit einer Gegenfrage antworten.

„ … Ja, wie komme ich dazu. …“

In der roten Burg wird er, Jacob Tolmeyn – mit c und y – aus Berlin, Kommissar von Treptow langsam und bruchstückhaft anvertrauen, was es auf sich hat mit dem Sand. Er erzählt die Geschichte von Fritzi und Niki, ohne tatsächlich von diesen beiden zu sprechen.

Aus verschiedenen Blickwinkeln, über Zeiten und Ebenen hinweg hat Christoph Poschenrieder eine perfekte Geschichte erschaffen. Eine jener raren Geschichten, die ein Tor öffnen in eine andere Zeit, in eine Welt, die längst vergangen so lebendig wird, dass man nur einen Schritt gehen muss, um ein Teil von ihr zu werden. Vom Anfang bis zum Ende hat er sie gründlichst durchdacht, klug aufgebaut, brillant strukturiert. Ohne die einzige Anmutung von Konstruktion.

Die erste Reise, mit dem Ziel steinerne Zeugen der Zeit Kaiser Friedrichs in Italien zu verzeichnen und zu vermessen, tritt der junge Kunsthistoriker Tolmeyn noch alleine an. Auf der zweiten Reise, die die Erkenntnisse der ersten vertiefen soll, wird ihm ein junger aus der Schweiz stammender Kollege, Beat Imboden, zur Seite gestellt, den er anfänglich abschätzig als Assistenten bezeichnet, jedoch immer mehr schätzen lernt.

Seine Heimatstadt Berlin offiziell wegen dieser Aufgabe verlassen zu müssen ist ein Glücksfall für Tolmeyn, lässt er dort doch Kreise zurück, in denen man sich aufgrund des Paragraphen 175, der gleichgeschlechtliche Liebe unter Höchststrafe stellt, besser nicht bewegen sollte.

Poschenrieder beschreibt die Situation der Gemeinde der damals Freundlinge genannten Männer sehr atmosphärisch. Zwar gab es sogar Gerüchte um die Berater einer Majestät des Kaisers und deren sexuelle Neigungen, doch das tatsächliche homosexuelle Leben konnte nur im Dunkeln, gar im Zwielicht stattfinden.

In Italien hingegen fühlt sich Tolmeyn frei. Er genießt es, diese zweite Reise gemeinsam mit Imboden zu erleben. Sein Hang zum guten Leben, zur Extravaganz ist nur menschlich. In seiner teilweise aufblitzenden Maßlosigkeit wirkt er äußerst anziehend und charmant, obwohl er durchaus arrogant sein kann. All das verhindert eine keimende Freundschaft zwischen Imboden und ihm nicht – abtastend begibt er sich immer wieder in den Treibsand der Gefühle – doch schafft er es nicht, Imboden aus der Reserve zu locken.

Der Krieg ist ausgebrochen, Imboden, der aus einer Familie mit langer militärischer Tradition stammt, schließt sich der Fremdenlegion an, Tolmeyn kehrt zurück nach Rom, von wo sie die zweite Reise begonnen hatten …

Innere Gefühlswelten, die nur zeitweise durch die äußeren Zwänge eingeschränkt bleiben können, politische und gesellschaftliche Ereignisse, die Lebenslinien unterschiedlicher Personen, all das verschmilzt Poschenrieder auf eleganteste Art und Weise. Das Schicksal verschiedener Personen wird zu einem einzigen. Wie bei einer Farbaufnahme setzt er aus den drei Phasen Blau, Grün und Rot ein realistisches und sehr farbiges Bild der Zeit, der Gesellschaft und der Menschen zusammen. So geschickt, dass es keinerlei Brüche im Text gibt. Diese Geschichte liest sich wie aus einem Guss. Trotz der unterschiedlichen Ebenen, Zeiten, Blickwinkel. Dass sie sicherlich mit der größten Sorgfalt aufgebaut wurde, merkt man ihr in keiner Sekunde an.

Wollte man einen Text haptisch erfassen, so wäre Das Sandkorn reine Seide: fließend und anschmiegsam, im Griff kühl und warm zugleich, perfekt fallend, nie einengend und von allen Seiten elegant schillernd.

Allerfeinster Buchstoff eben.

Buchdetails

  • Aktuelle Ausgabe: März 2014
  • Verlag: Diogenes Verlag
  • ISBN: 978-3-257-06886-3
  • Halbleinen, gebunden:  416 Seiten

 

3 Gedanken zu “Reine literarische Seide

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