Als einigermaßen wohlhabender und arrivierter Mensch kann man sich außergewöhnliche Spleens leisten. Wenn man etwas tut, was sonst keiner tut, macht einen das im besten Falle nicht zum Außenseiter, sondern nur noch interessanter.
Anders verhält sich das, wenn man weder Geld noch Renommee hat. Dann werden die Gepflogenheiten äußerst genau durch das soziale Umfeld unter die Lupe genommen und bewertet. Fallen sie dabei durchs Raster, kann das Schwierigkeiten mit sich bringen.
Als Arno Geiger das erste Mal Funde vom Altpapiercontainer nach Hause mitbrachte, war er Student. Er war jung und brauchte das Geld – so einfach kann man den Sachverhalt zusammenfassen. Er lebte in Wien in unmittelbarer Nähe zum Naschmarkt, tolle Lage, aber kleine Wohnung mit einer Einrichtung, die aus Flohmarktfunden bestand. Der erste Zusammenstoß mit aussortiertem Papierkram war eher Zufall, als er zu Fuß zum Einkaufen unterwegs war und neben einem Papiercontainer mehrere Bananenkartons voller Bücher fand. Man kann es ihm gut nachfühlen, dass er als Buchliebhaber daran nicht vorbeigehen konnte: Er musste die Bücher retten.
Schnell stellte sich eine Routine ein, er ging meist zu Fuß, manchmal später auch mit dem Fahrrad und suchte im Laufe der Zeit immer systematischer auf ausgeklügelten Routen sämtliche Recyclingstationen ab, immer in der Hoffnung, dabei spannende und weiterverwertbare Sachen zu finden. Waren es keine Bücher, waren es Plakate, Briefmarkensammlungen, manchmal auch Fotografien oder Zeitschriften.
Die damalige Freundin M. ist zu Beginn not amused, doch als dann auch mal ein gut erhaltener, seltener Gedichtband zwischen dem Papierkram auftaucht und sie diesen bekommt, beginnt sie Geigers merkwürdigen Zeitvertreib etwas mehr zu akzeptieren. Sie sammeln die vielversprechendsten Funde und halten sie an einem Wochenende auf dem Flohmarkt feil.
„Als M. und ich am Abend nach unserem ersten Verkauf das Geld zählten, hatten wir sechstausend Schilling eingenommen. Ungefähr die sechsfache Monatsmiete.“
Ein voller Erfolg also! Von nun an verdienen sich die beiden durch Geigers papierne Streifzüge ein ordentliches Zubrot. Und dennoch bleiben Vorbehalte zurück, bei der Freundin, bei Fremden, die ihn zufällig beobachten, nicht zuletzt bei Geiger selbst, denn es gehört sich doch eigentlich nicht, als ordentlicher Bürger im Müll anderer zu wühlen und Dinge von dort mit nach Hause zu nehmen. Geiger weiß, auch seine Eltern würden dieses Verhalten verurteilen – glücklicherweise haben sie aber keine Ahnung. Geiger fasst das Gefühl, das ihn in guten Momenten dazu übermannt, wunderbar in Worte:
„Der Verzicht auf Bewunderung verschafft einen Zugewinn an Freiheit. Das gilt in vielen Lebensbreichen und natürlich auch für das Schreiben.“
Die Streifzüge durch Wiens Gassen auf der Suche nach wertvollen Funden haben meditativen Charakter für den jungen Mann, der sich selbst noch finden muss, der seine Berufung noch sucht, noch nicht so recht bei sich angekommen ist. Bei Wind und Wetter läuft er in den frühen Morgenstunden, bündelt seine Gedanken und lernt viel über die Menschen, in deren alten Tagebüchern, Briefen oder Postkarten er stöbert. Denn, nachdem er sie gefunden und gerettet hat, liest er sie auch. Sie dienen ihm als nicht versiegende Inspirationsquelle.
Dieser Spleen wirkt in der Rückblende äußerst charmant, fast möchte man es ihm jetzt, sofort gleichtun, aber wie gut kann man sich die Scham vorstellen, die ihn überkommen haben muss, wenn er kopfüber in einen Papiercontainer kletterte und beim Auftauchen in ein fremdes Gesicht sah, auf dem sich die blanke Verwunderung spiegelte.
Natürlich ist das Papiersuchen nicht das einzige Thema, über das Geiger in seinem 230-Seiten-Werk erzählt, aber es ist eindeutig der rote Faden, an dem wir uns entlangbewegen und anhanddessen wir Geiger bei seiner Rückblende auf sein Leben begleiten.
Sehr offen, sehr ehrlich (so macht er uns zumindest glauben) und sehr schonungslos berichtet der österreichische Autor von seinem Werdegang, seinem Privatleben, seinem Elternhaus. Er geht dabei ins Detail, lässt die Leser*innen teilhaben an seinen Irrungen und Wirrungen, z.B. seiner doch eher toxischen Beziehung zu M. Statt es nach der ersten Trennung dabei zu belassen, kommen die beiden doch noch einmal zusammen, machen dabei viel kaputt und scheitern am Ende eh nur wieder.
Geiger wird reifer, die Eltern gebrechlicher, in der Familie gibt es Todesfälle. Für alles findet der Autor eine zarte, empathische Sprache. Das Alltägliche stellt er in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen – und macht das Buch so zu einem ruhigen, leisen, unaufgeregten und liebevollen Schatzkästchen.
Kluge Sätze kommen hier immer wieder vor und man kann sich vorstellen, dass das Buch, zu unterschiedlichen Situationen im Leben gelesen, immer wieder neue Lebensweisheiten bereithält, je nachdem, worauf der eigene Fokus gerade gerichtet ist.
„Heute verstehe ich besser, was man mir im Studium beigebracht hat: dass der eigene Blick auf die andern nur wesentlich ist, wenn wir wissen und begreifen, wie die andern leben.“
Ein Bändchen, das man sich gut als Wegbegleiter vorstellen kann, auf dem Nachttisch ruhend, leise wartend, bis es wieder einmal zum Einsatz kommt …
„Das glückliche Geheimnis“ von Arno Geiger ist im Januar 2023 im Hanser Verlag erschienen. Zu mehr Informationen kommt man per Doppelklick auf das im Beitrag angezeigte Cover oder auf den Verlagsnamen.