Manchmal bin ich froh, dass ich nicht mit einer Großfamilie unter einem Dach leben muss. Manchen Konflikten kann man so aus dem Weg gehen und eine aufringliche Oma oder ein tyrannischer Opa lassen sich aus der Ferne doch deutlich leichter ertragen, als im alltäglichen Miteinander.
Olga hat diese Wahl nicht und oft genug merkt man ihr an, wie genervt sie davon ist, mit Mutter, Tanten und Cousinen, vor allem aber dem alles dominierenden Großvater unter einem Dach leben zu müssen. Sie lebt am Schwarzen Meer in der lebhaften Hafenstadt Odessa, wo sie derzeit Medizin studiert. Das langweilt und überanstrengt sie gleichermaßen, denn es war nie ihr freier Wille, Medizin zu studieren. Aber weil sie als Kind einen kühlen Kopf behielt, als sich ihre Cousine mit dem Messer eine tiefe Wunde an der Handinnenfläche zuzog, sofort Erste Hilfe leistete, obwohl Blut in rauen Mengen floss und der Rest der Familie in Panik ausbrach, entstand innerfamiliär plötzlich die grandiose Idee, dass Olga für den Beruf des Arztes geradezu prädestiniert sei. Anfangs brachte das nur Vorteile: Sie, die bislang nie groß beachtet worden war bei Familienfeiern und -zusammenkünften, wurde nun mit ein wenig Respekt behandelt. Plötzlich war Olga das „gute Mädchen“, das klug und tough genug für einen Beruf als Göttin in Weiß schien. Sie war plötzlich jemand. Wie sehr dieser Vorfall ihr wirkliches Leben in der Zukunft noch beeinflussen würde, ahnt die Kleine damals natürlich nicht.
Die eigentliche Handlung setzt 2014 ein, es ist Sommer und noch ist es eine trügerische Idylle in der heißen Stadt am Meer, die Hitze drückt etwas aufs Gemüt, das ist (noch) das Hauptproblem. Und der Großvater, der ist nämlich ein Grantler vor dem Herrn, ein jähzorniger, selbstverliebter Despot, der seine „Damen“ komplett im Griff hat und formt und gängelt, wie es ihm beliebt. Wenn eine aufmuckt, gibt es „Liebesentzug“, was in dem Fall schlicht bedeutet, dass er noch grantliger und unausstehlicher ist, als eh schon. Plötzlich schleppt er eine Katze an, so etwas wird natürlich nicht mit dem Rest der Familie besprochen, das entscheidet der Patriarch alleine. Fortan ist sie sein „Baby“, sie erhält so viel ehrliche Zuneigung wie keine der menschlichen Damen.
Olga erträgt den Studialltag und den Wahnsinn zu Hause nur dank ihres besten Freundes Radj (nicht ganz unproblematisch, da er in sie verliebt ist, sie aber nicht in ihn), dank ihrer besten Freundin Mascha (auch nicht ganz unproblematisch, weil diese nett, aber etwas oberflächlich und auch etwas egozentrisch ist) und dank ihrer wieder aufgetauchten Jugendliebe Sergej (… man ahnt es, auch dieses Verhältnis ist nicht ganz unproblematisch …). So konfliktgeladen dieser Kreis auch sein mag, er stellt dennoch eine Art Gegengewicht zu ihrer Familiensituation dar und so tänzelt Olga durch diesen Sommer, manchmal genervt, manchmal unbeschwert und sucht nach ihrem ganz persönlichen Weg zum Glück. Als dann auch noch ein (früher enger) Freund des Großvaters namens David auftaucht, merkt man, dass dies das fragile „Gleichgewicht“ der Familien-WG endgültig auf die Probe stellen wird, denn dieser alte Freund trägt ein Geheimnis mit sich herum, das alle angeht.
So sehr der Roman, ein wirklich gelungenes Debüt übrigens, auch als „unbeschwert“ beschrieben wird in sämtlichen Rezensionen, die ich gelesen oder gehört habe – ich habe ihn nicht so empfunden. Ob es daran lag, dass ich zu sehr die Ist-Situation Odessas (und der ganzen Ukraine) vor Augen hatte oder dass mich der Egomanen-Großvater zu sehr getriggert hat – ich weiß es nicht. Für mich schwang immer mehr Melancholie, ungutes Flirren (durch die Hitze, aber auch durch eine Ahnung dessen, was kommen würde) und Stress mit, bei allem, was Olga erlebt. Und das ist ja auch durchaus dramatisch, die Auseinandersetzung mit dem gekränkten Kumpel, das Hin und Her mit dem „Loverboy“, die unzuverlässige beste Freundin, bei der man manchmal nicht weiß, ob Olga nicht nur von ihr ausgenutzt wird. Und dann geschehen auch ganz objektiv drastische Dinge: die Datscha der Familie brennt ab, national gesinnte Jugendliche marschieren auf.
Ein wenig hat mich das Familiendurcheinander an Alina Bronskys „Der Zopf meiner Großmutter“ erinnert, wobei ich ehrlich sagen muss, dass genau dieser Familien-Aspekt mich auf Dauer auch bei beiden Büchern sehr angestrengt hat, weil es einfach nicht meine Welt ist, diese erdrückende Familienbande, und ich selbst das Lesen darüber als wirkliche Zumutung empfand 😉
Aber meine Befindlichkeiten sind ja nicht Gegenstand dieser Besprechung 😉 und so reicht es, zu sagen, dass das Buch schwungvoll, frisch, jung daherkommt und auf alle Fälle eine gelungene Geschichte ist, die beschriebene Familie muss man ja nicht lieben 😉
„Sommer in Odessa“ von Irina Kilimnik ist im Februar 2023 im Verlag „Kein&Aber“ als gebundenes Buch erschienen. Zu mehr Informationen kommt man per Doppelklick auf das im Beitrag angezeigte Cover oder auf den Verlagsnamen.