Zu allererst: Ich war verliebt. In die wirklich wunderbare Buchbesprechung über „Serge“, die ich, während ich auf meinem Ergometer im Keller strampelte, auf irgendeinem Sender im Radio gehört hatte. Als das Buch schließlich in meinen Händen lag, konnte ich es kaum abwarten, endlich loszulegen, denn zu meiner Schande hatte ich bis dato noch nie etwas von Yasmina Reza gelesen.
Um es kurz zu machen, ich habe über ein Drittel des sowieso schon schmalen Bändchens (208 Seiten) gebraucht, um mich auch nur annähernd in diesen ungewöhnlichen Stil einzulesen. Stakkatoartige Sätze katapultieren einen von einer Szene zur nächsten; ohne wirklich in das Familienszenario eingeführt zu werden, huschen wir als Leser*innen von einer Szenerie zur nächsten und verlieren (zumindest ich) erst einmal den Überblick über die Besetzung. „Kunst der fragmentierten Dialoge und Rede“ nennt die FAZ in einer Rezension vom 25.1.22 offensichtlich begeistert genau das, was ich als Manko empfinde.
Immer wieder fühle ich mich erinnert an Gesprächsfetzen der früher von mir so geliebten Louis-de-Funès-Filme mit Dialogen, die (frei zusammengereimt) immer in etwa so verliefen:
„Er ist verrückt!“
„Was?“
„Oh!“
„Nein!“
„Doch!“
„Er ist verrückt!“
Ich anerkenne die Kunst von Frau Reza, die es schafft, drei erwachsene, nicht mehr junge „Kinder“ nach dem Tod ihrer Mutter zusammenkommen zu lassen, die durch die Nichte Joséphine dazu genötigt werden, gemeinsam nach Auschwitz zu reisen, um ihren jüdischen Wurzeln nachzuspüren, und all das nicht peinlich werden zu lassen. Familienangehörige waren dort im Konzentrationslager auf die schlimmstdenkbare Art gedemütigt, vernichtet, zerstört worden. Reza schafft es auf unnachahmliche Weise, einen Balanceakt zu finden, diesen Szenen, die sich aufgrund der schrägen Familienmitglieder ergeben, so etwas wie Situationskomik zu entlocken, so zum Beispiel, als die junge Nichte Joséphine angesichts der Schuhberge im KZ lakonisch feststellt, dass auch damals schon gerne Blockabsatz getragen wurde …
Das muss man erst mal können und sich trauen, an so einer tragischen Stätte so etwas von sich zu geben -, aber, da Yasmina Reza selbst einer jüdischen Familie entstammt, ist sie dazu mehr berechtigt als irgendjemand sonst.
Dennoch: Im Mittelteil komme ich zwar flüssiger voran als im ersten Drittel, doch mit der Zeit ermüdet mich der Schreibstil und ich beginne, rasch weiterzublättern, nicht mehr jeden Satz bewusst zu lesen, sondern dem Ende entgegenzueilen. Eine Identifikation mit den Protagonist*innen, zwei Brüdern und einer Schwester, ist kaum möglich, aber schätzungsweise auch gar nicht gewollt.
Als meine Schwierigkeiten mit dem Stil des Textes begannen, las ich ein wenig über die Autorin, und je mehr ich erfuhr, um so klarer wurde mir, warum ich Schwierigkeiten hatte: Was ich hier las (das denke ich noch immer, obwohl ich dafür keinen Beweis gefunden habe), ist im Endeffekt eine Art Skript oder Drehbuch, das sicherlich in nicht allzu weiter Ferne als französischer Kinofilm zu sehen sein wird, denn Yasmina Reza ist nicht nur Autorin sondern auch Regisseurin. Die Dialoge sind 1:1 so angelegt, dass man sie vor laufender Kamera sagen kann – und sie funktionieren. Die „Prosa“ zwischendrin sind quasi die Szenenanweisungen für das restliche Team, sozusagen die Vorgaben: Wo drehen wir das, wie muss es dort aussehen, wie ist das Ambiente. All das, was ich da gelesen habe, formierte sich in meinem Kopf zu einer Tragikomödie in französischem Stil.
„Serge“ steht auf Platz 1 der Bestsellerliste von „Spiegel“ und ich bin verwundert, denn das Buch lässt mich ratlos zurück. Es teilt sich diese „Auszeichnung“ mit Büchern, die unendlich viel Wärme und Freude in die Herzen der Leser*innen gebracht haben und noch immer bringen, aber bei diesem Titel ist es für mich nicht nachvollziehbar, was den Hype ausmacht.
Ein wirrer Plot, oberflächlich beschriebene Charaktere, in die sich niemand einfühlen kann, ein Ende, das man so und so, aber vor allem so deuten kann.
Zugutehalten kann man Yasmina Reza, dass sie mutige, schnelle, spontane, rasante Szene entwirft – doch für mich transportiert diese klamaukhafte Familiengeschichte wenig bis gar nichts und in so ernsten Zeiten wie diesen ist mir das einfach zu wenig.
„Serge“ von Yasmina Reza ist 2022 im Hanser Verlag als Hardcover erschienen. Informationen zum Titel und dem Verlag durch einen Doppelklick auf das Buchcover oder den Verlagsnamen.
Ich hab letztes Jahr von ihr auch was gelesen (Glücklich sind die Glücklichen) und meine Kritikpunkte sind ähnlich: episodenhaft aber es ergibt kein Ganzes, sondern ist total verhüttelt und wirr, aber in Szenen teilweise genial. Ich glaub mittlerweile wirklich, dass sie im Theater besser rüberkommt und habe sie von meiner Liste der Autoren, von denen ich noch mehr lesen muss gestichen.
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Ja, den Film kenne ich 😆
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Falls du es noch nicht kennst, empfehle ich dir wärmstens den Film nach einem Skript von Yasmina Reza:“Der Gott des Gemetzels“ wunderbare Schauspielet in einem ausgesprochen fiesen und genial umgesetzten Kammerstück. Unbedingt mit Mann, besser noch mit Freunden schauen, die auch Eltern sind.
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Reza ist ja als Theaterautorin von Anfang an so etwas wie eine Popularisiererin des absurden Theaters. Mit dem Vorteil, dass solche Stücke sich, anders als zB Becket, tatsächlich ganz unterhaltsam verfilmen lassen (zumal Reza dem Ganzen immer einen greifbaren, sehr populären Kern gibt zB, platt gesagt, „ist moderne Kunst intelektueller Beschiss?“ (Art). Ob man das wertvoll findet, darüber mag man streiten, es ist zumindest pointiert und eben – unterhaltsam. Auf Romanlänge, könnte ich mir vorstellen, muss das eigtl deutlich schlechter funktionieren…
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Ich hatte einen ähnlichen Eindruck, konnte ihn aber nicht so gut in Worte fassen. Louis de Funès passt wunderbar. Es stimmt, letztlich hat man den Eindruck ein Skript gelesen zu haben. Viele Grüße,
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