Ein schmaler Band, links immer ein kalligrafisches Zeichen, rechts Text. Gute Aussichten, auch für Wenigleser oder solche, die sich überhaupt schwertun damit, mal ein Buch in die Hand zu nehmen. Doch trotz seiner gerade mal 200 Seiten Umfang transportiert die amerikanische Autorin Alison McGhee darin eine unheimlich intensive, anrührende Geschichte.
Mit wenigen „Strichen“ skizziert sie diesen Jungen, der ein äußerst einnehmendes Wesen und einen großen Pluspunkt hat, der ihm im Leben immer helfen wird: Er tut sich selbst und anderen Gutes. Dies geschieht weitgehend, ohne dass der Junge es zu bewusst wahrzunehmen scheint, doch instinktiv greift er immer zu den richtigen Mitteln. Will hat einen heftigen Schicksalsschlag zu verkraften und dieser grundgesunde innere Antrieb bringt ihn dazu, zu gehen. Er marschiert fortan durch sein Leben, gestaltet seinen Alltag zu Fuß – was umso erstaunlicher ist, wohnt er doch in L.A., einer Stadt, in der es schon merkwürdig ist, wenn jemand die öffentlichen Verkehrsmittel nimmt und nicht das eigene Auto – aber zu Fuß? That’s kinda weird …
Er sucht sich einen Nebenjob, um beschäftigt zu sein, nicht so viel nachdenken zu müssen, und landet dabei im amerikanischen Pendant zu unserem deutschen „1-Euro-Shop“. Er beginnt dort zu arbeiten und schnell schließen er und der Ladenbesitzer, Mr. Montalvo, sich gegenseitig ins Herz. Liebevoll neckend nennt Will ihn „Major Tom„, in Anlehnung an Bowies grandiosen Song „Space Oddity„, der in diesem Buch eine große Rolle spielt. Auch Will fühlt sich (daher der Titel) seit dem Schicksalsschlag wie abgekapselt von der Welt, wie in einer Raumkapsel, die sich in freiem Flug befindet.
Der Job neben der Schule (der hier so gut wie gar kein Raum gegeben wird, was ich sehr erfrischend finde), das viele Gehen und die liebevollen Zettelchen seiner Mum, die sie ihm vor der Arbeit morgens hinlegt, bilden ein Gefüge, das Will Struktur vermittelt. Beim Gehen erzählt er und wir Lesende erfahren, was eigentlich geschehen ist und wo er gerade im Leben steht. Beim Gehen beobachtet er aber auch viel, zum Beispiel den kleinen Jungen, der vor dem Haus immer zur gleichen Zeit „seine“ Schmetterlinge erwartet, die tatsächlich auch immer pünktlich angeflattert kommen. Das bricht Will fast das Herz, so rührend findet er das. Als er auf seiner Arbeitsstätte an diesem Tag Ferngläser mit Schmetterlingsaufdruck auspackt, ist der Plan gefasst: Er kauft eines für den kleinen Kerl und hängt es ihm abends auf dem Rückweg an den Busch vor dem Haus. Beim nächsten Treffen erzählt der kleine Junge Will überglücklich, dass seine Schmetterlinge ihm ein Fernglas geschenkt haben – Will korrigiert ihn nie … Von jetzt an kriegt der kleine Schmetterlingskerl immer mal wieder heimlich etwas von ihm zugesteckt.
Will hat ein Gespür dafür, was Menschen brauchen. Er sagt hier ein lustiges Wort, dort schenkt er ein freundliches Lächeln – immer sind es sehr kleine, kaum im materiellen Sinne messbare Aufmerksamkeiten, die er gibt und doch sind sie kostbarer als alles Geld der Welt, denn Will gibt den Menschen das Gefühl, gesehen zu werden.
Als seiner Kindergartenfreundin Playa auf einer Party, die er früher als sie verlassen hat, ein schreckliches Unglück widerfährt, grübelt er einige Zeit, dann beschließt er sein bisheriges Prinzip auf Playa auszuweiten und ihr jeden Tag eine Freude zu machen, um ihr so den Glauben an das Gute in der Welt und in den Menschen zurückzugeben.
Wie ich bei einer kurzen Netzrecherche durch eine Rezension von Alexandra Fichtler-Laube auf der Seite Jugendbuch-Couch erfahren habe, haben auch die kalligrafischen Zeichen und die besondere Gestaltung des Romans eine klare Bedeutung:
„Im amerikanischen Original hat sich Alison McGhee zum Ziel gesetzt, Wills Reise in 100 Kapiteln mit je 100 Worten zu beschreiben. Absolut grandios und mit viel Können hat dies auch die Übersetzerin Birgit Kollmann ins Deutsche übertragen können. Diese gewollte Einschränkung im Umfang führt zu einer wunderbar lesbaren, aufs Wesentliche konzentrierten lyrischen Geschichte. Jedes der 100 Kapitel beginnt mit einer Kalligrafie der chinesischen Zahlen 1 – 100, in Anlehnung an das chinesische Geschäft mit 100 Segenswünschen, welches Will und sein Vater im Roman oft zusammen besuchten und den 100 Cent, aus denen ein Dollar besteht.“
Mit diesem schönen Zitat ende ich und spreche eine klare Leseempfehlung aus – der Verlag sagt ab 12 Jahren, ich würde eher ab 14 Jahren empfehlen.
„Wie man eine Raumkapsel verlässt“ von Alison McGhee ist 2021 in der Reihe Hanser bei dtv als Klappenbroschur erschienen. Informationen zum Titel und dem Verlag durch einen Doppelklick auf das Buchcover oder den Verlagsnamen.
@bluesforuse Absolut, liebe Thurs!
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Das klingt aber auch nach etwas für mein Alter *schmacht*
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