Iris Wolffs „Die Unschärfe der Welt“ liegt seit Monaten auf meinem SUB und wartet ungeduldig darauf, endlich gelesen zu werden. Neulich stieß ich durch Zufall auf das noch schmalere Bändchen derselben Autorin „So tun, als ob es regnet“ und hab das unfairerweise mal schnell zwischengeschoben, ohne mein armes, wartendes anderes Buch von ihr um Erlaubnis zu fragen. Ich muss also sehr leise tippen, damit es das nicht mitkriegt, denn es liegt quer gegenüber von mir auf einem Tischchen, ich glaube, ich lege mal eben ein Kissen drauf 😉
Der Roman in vier Erzählungen ist tatsächlich sehr überraschend, vielfältig und mitreißend, trotz seiner Kürze und trotz der Aufteilung in vier Elemente, die ja im schlimmsten Fall auch den Lesefluss stören könnte. Tut sie aber nicht. Wir haben in der ersten Erzählung einen jungen Protagonisten, der als Soldat im Krieg ist und für ein paar Tage das Glück einer Auszeit von den Schießereien erleben darf, weil er zu einem Spezialeinsatz in einer Familie untergebracht wird, was sich als durchaus folgenreich für ihn entpuppt. Cut. Nächste Erzählung. Mehrere Schwestern einer Familie sind im Fokus dieser Erzählung, aber nur eine davon besucht ab und an nachts den Großvater und seine Gleichgesinnten, die alle keinen Schlaf finden, sich nachts rastlos fühlen. Der Großvater beginnt, ganz unangepasst, des Nachts seine Beete zu pflegen und hat von da an das leckerste Gemüse im ganzen Ort. Wieder ein Cut. Nun sind wir bei einem jungen Mann, der bei seiner Tante lebt, quasi als Pflegemutter, denn seine leibliche Mutter ist lieber unterwegs, ist zu unstet, unruhig, kann nicht gut klare Tagesabläufe strukturieren. Dafür ist sie aber weltgewandt, wenn sie mal vorbeischaut, und vor allem so schön, dass sich immer alles nur um sie dreht, wo auch immer sie erscheint. Cut. In der letzten Geschichte sind wir bei einer Frau „zu Besuch“, die nach La Gomera gezogen, aber immer im steten telefonischen Austausch mit ihren Eltern zurück in der alten Heimat ist. Dieses Mal erfährt sie, dass der Vater ernsthaft erkrankt ist, aber nicht möchte, dass sie seinetwegen den weiten Weg nach Hause auf sich nimmt. Und auch sie ist unentschlossen, was sie nun tun soll bzw. möchte. Und dann ist da noch diese merkwürdige Beobachtung, die sie gemacht hat, wie ein Liebespaar zu einem Fischer ins Boot steigt – und just dieses Boot wird kurz darauf vermisst … was soll sie davon halten?
Als die erste Geschichte endete, war ich traurig, ich hätte die Geschichte des jungen Soldaten gerne en détail kennengelernt und wollte mich nicht so recht in die zweite Geschichte einfühlen. Doch dann, aufgrund des eher ungewöhnlichen Namens der jungen Hauptperson fräste sich allmählich eine zarte Ahnung in mein Bewusstsein 😉 Und so erging es mir bei allen vier Erzählungen: Enttäuschung, dass ich aus der vorhergehenden Geschichte rausmusste, Unklarheit, was ich nun in der neuen Geschichte soll und dann das langsame Dämmern – einem Rätselraten gleich -, wo die Verbindung zwischen den scheinbar nicht zusammengehörenden Erzählungen zu finden ist. Großartig! Einen solchen Aufbau habe ich noch nie erlebt. Sicher, man kennt den literarischen Kniff, verschiedene Erzählstränge anzureißen, sie parallel laufen zu lassen, immer kapitelweise zu einem anderen Protagonisten zu springen und am Ende, einem gigantischen Zopf gleich, sämtliche Stränge zusammenzuflechten zu einem stimmigen Ganzen.
Hier läuft das aber anders: Wir haben hier vier für sich stehende, in sich abgeschlossene, sehr verknappte und doch ausdruckskräftige Mini-Romane. Mehr darf ich zum Aufbau nicht sagen, sondern spoilere ich, sagt meine Blogkollegin Bri ;-).
Ein kurzes Lesevergnügen, das wirklich nachhallt, das Lust auf mehr macht, bei dem man sich fast schon ärgert, liebe Frau Wolff, dass die Geschichten so verflixt komprimiert sind. Aber dann muss man sich seufzend eingestehen, dass genau das ja den Zauber und das besondere Flair dieses Buchs ausmacht.
Ist ja klar, dass mein zurückgestoßenes „Die Unschärfe der Zeit“ nun nicht mehr lange beleidigt sein muss, sondern als nächstes von mir „inhaliert“ werden wird und wenn es nur halb so gut ist, wie das vorliegende Bändchen, habe ich tolle Stunden vor mir.
„So tun, als ob es regnet“ von Iris Wolff ist im Otto Müller Verlag, Salzburg als Hardcover erschienen und wird im Mai 2022 als Taschenbuch bei Klett-Cotta herausgebracht. Informationen zum Titel und die Verlage durch einen Doppelklick auf das Buchcover oder die Verlagsnamen.
Hab ich durchgelesen! Ja, kann ich verstehen. Gut begründet und wie Du sagst: Buchempfehlungen sind nun mal sehr subjektiv!
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Ich hatte eigens drüber gebloggt. Es hat mich an „Hurz“ von Loriot erinnert. Als würde die Autorin bewusst verschachteln und verschnörkeln, um den Leser zu suggerieren, dass es sich um ganz große Literatur handeln muss…https://nikileaks.de/2020/11/18/so-tun-als-ob-es-regnet/
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Krass! Ein Buch „arrogant“ zu nennen, finde ich spannend! Was genau meinst Du damit?
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hm…so unterschiedlich sind die Geschmäcker. Ich fand es arrogant.
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