Lyrik – damit kann man – wie im Übrigen auch nicht unbedingt mit jeder anderen Art von Schriftstellerei, wenn man nicht unbedingt zu den TopautorInnen gehört – kaum reich werden. Die meisten SchriftstellerInnen, so ist es aller Orten zu lesen, haben noch einen Brotberuf, der ihnen ermöglicht, eben auch zu schreiben, Geschichten zu erzählten. Und trotz des Narrativs der Unverkäuflichkeit von Lyrik geschehen seit ein paar Jahren vermehrt Dinge, die aufzeigen, dass wir Menschen doch sehr wohl Gefallen an Lyrik finden. Die einen haben es gerne, wenn Gedichte sich reimen, einem regulären Versmaß folgen, die anderen, so wie ich, müssen sich einfach nur angesprochen fühlen, ihre eigene Interpretation in den Text legen können. Es gibt seit nun mehr zehn einen Verlag, der sich einen Namen damit gemacht hat, Lyrik zu verlegen, die zumindest mir quasi direkt ins Blut geht. Angefangen hat diese Begeisterung für mich mit einem Lyrikband, der isländische Atomdichtung zum Inhalt hat und einen wunderbaren Titel „Jenen zum Trost, die sich in ihrer Wirklichkeit nicht finden können“ trägt. Seit diesem Lektüreerlebnis bin ich infiziert und dem Elif Verlag und seinem Verleger Dincer Gücyeter für seinen Mut, einfach das zu tun, was er tut dankbar.
Wer kennt das nicht: Es gibt Tage, da weiß ich schon beim Aufstehen, dass ich heute unbedingt und ganz dringend meine für andere unsichtbare Rüstung brauche. Meine Rüstung ist, seitdem ich nicht mehr aktiv Motorrad fahre, keine Lederjacke mehr, sondern ein Duft, der mich an bestimmte Situationen und Personen erinnert und mich, wie eine Lederjacke, wie eine zweite Haut schützt. Kein Wunder, dass mich der Lyrikband von Frìða Ìsberg schon alleine aufgrund seines Titels ansprang: Lederjackenwetter – ob sich hinter den Gedichten wohl auch so etwas wie Unsicherheit verbarg? Das Bedürnis, sich eine zweite Haut zuzulegen, wenn man sich der Welt gegenüber nicht verletzlicher zeigen wollte, als man es gerade im Moment ertrug?
Schon das erste der 34 Gedichte – wieder einmal wunderbar von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer aus dem Isländischen übertragen – verschaffte mir Gewissheit. Es ging um Verletzlichkeiten, Schutz, Beistand und den Blick zurück. Aber nicht nur den eigenen. Ìsberg hat die in diesem Band versammelten Gedichte in drei Bereich unterteilt. 1. Person, für mich das (lyrische) Ich (eines jeden), 2. Person, für mich das Gegenüber aber auch die eigene zweite Seite und Wir – das eindeutig benannte gemeinsame das auch trennen kann. Eindeutig für mich sind die Gedichte aus oder in einem weiblichen Blickwinkel, der dennoch nicht geschlechtsspezifisches per se hat. Die Interpretation meinerseits als weiblichen Blickwinkel treffe ich aus meiner eigenen Sicht: jedes dieser Gedichte spricht mich als weibliche Person direkt im Kern an, ich meine aber zu wissen, dass das nicht nur Frauen so gehen dürfte.
Da ich bekanntermaßen von Lyrik nicht wirklich etwas verstehe, versuche ich nicht, Gedichte zu interpretieren. Möchte aber doch eines zitieren:
GLEICHGEWICHT
sehe mich selbt in einem fenster gespiegelt
auf dem weg vom laden nach hauseeine schwere einkaufstasche
in einer hand
als wäre ich eine schiefe waageich wünschte ich könnte
gleichgewicht im laden kaufenlernte etwas von mir zu geben
ohne mich völlig
verletzlich zu machen
Verletzlichkeit ist ein zweischneidiges Schwert – einerseits riskieren wir Schmerzen, wenn wir uns verletzlich machen, andererseits kann eine verhärtete Seele nicht gewollt sein, schnitte sie uns doch von allem ab und führte uns letztendlich in die Isolation.Und abgeschnitten können wir Menschen nicht wirklich leben. Für die Tage, an denen uns die Verletzlichkeit zu viel ist, um der Welt zu begegnen, ist es gut, eine Lederjacke und einen darin steckenden Lyrikband bei sich zu wissen.
Lederjackenwetter von Frìða Ìsberg, ins Deutsche aus dem Isländischen übertragen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer, ist im September 2021 im Elif Verlag erschienen. Für mehr Information zum Buch per Doppelklick auf das im Beitrag abgebildete Cover oder direkt auf der Verlagsseite.
Lederjackenwetter hab ich heute frisch gedruckt abgeholt. Allerdings auch Ridley Scotts neuestes Werk 😉
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Wie schon – ja stimmt, du hast ja auch „Denen zum Trost …“ Ich nehme das auch immer wieder gerne zur Hand. Übrigens gibt es auch ein tolles Proejekt für Kinder – statt PoeSie heißt es PoeDu … und die Muße der Mäuser ist auch bezaubernd. Ich habe mittlerweile ein kleines, aber sehr feines Lyrikregal … LG, bin gespannt, wie du es findest.
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Da denke ich wehmütig an den guten alten Harro. Handtasche und Kopfkissen falls nötig in einem und die Rüstung gegen alle Widrigkeiten sowie bewährte Motorradjacke. Muss wohl auch her dieser Lyrikband, schon „Denen zum Trost, die sich in ihrer Gegenwart nicht finden können“ nehme ich immer wieder gerne zur Hand. Ansonsten Pachouli von Etro 😉 Merci Bri
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Mit Lyrik ist es bei mir wie mit der Kunst – entweder sie spricht mich an oder nicht, ich kann es schlecht begründen. Aber Rilke, Hesse, Kalenko, Tucholsky, Kästner mochte ich schon immer. Ich kann also wohl doch mit Lyrik, nur verstehe ich nix davon. Aber ja, einen Versuch wäre es wert. LG
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Oh ja, über den ELIF-Verlag habe ich neulich auch was gelesen, aber ich bin ja wirklich gar nicht Lyrik affin *leider*, auch wenn ich es immer wieder versuche. Maybe I should give it another try … Aber wenn man schon bei Rilke, Kalenko etc. nicht mit der Lietarturgattung warm wird, dann weiß ich auch nicht … 😦
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Nichts zu danken – herzliche Grüße an alle Mitwirkenden, das Buch ist toll. Und ich habe es bereits mehrfach verschenkt. Ich hoffe auf mehr. LG und einen guten Start in eine wunderbare Woche!
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Pingback: Emotionale Rüstung | Wortspiele: Ein literarischer Blog
Auch und vor allem im Namen der Autorin sagt das Übersetzer-Duo Gíslason/Schiffer herzlichen Dank für die so empfehlende Besprechung. Und für den ELIF Verlag freut es uns allemal!
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