Zweimal pure Begeisterung – Thursdaynext und Bri sind dem leuchtend blauen Faden Anne Tylers gefolgt
Bris Sicht der Dinge:
Oscar Wilde soll einmal gesagt haben:
„Freunde sind Gottes Entschuldigung für Familie“ – ein Ausspruch, den man sogar als irisches Sprichwort verzeichnet findet. Das lässt mehr als tief blicken.
Denn egal, wie sehr sich alle bemühen, eine glückliche Familie zu sein, egal, wie glücklich die Kinder tatsächlich sind, das was man an der Oberfläche familiärer Beziehungen sehen kann, ist immer nur ein Bruchteil des tatsächlich vorhandenen Geflechtes. Die Verbindungen zwischen den einzelnen Mitgliedern einer Familie variieren. Nie werden sie einander komplett gleichen, denn jede Beziehung hat ihre Schattenseiten und / oder Geheimnisse.
Eltern versuchen immer, das Beste für Ihre Kinder zu tun, soweit möglich und mit den hehrsten Absichten – davon ist Anne Tyler zutiefst überzeugt. Dass dabei Fehler gemacht werden und Verletzungen passieren, verschweigt sie nicht. Im Gegenteil: Liebevoll, mit größtmöglicher Empathie und trotzdem schonungslos schildert sie in ihrem jüngsten Roman Der leuchtend blaue Faden, was genau es heißt, Mitglied einer Familie zu sein.
Denny – scheinbarer Dreh- und Angelpunkt der Familie Whitshank – wartet überraschend mit der Nachricht auf, er sei schwul. Mitten in der Nacht offenbart er diese Erkenntnis seinem verdutzten Vater, nur um den Telefonhörer gleich darauf aufzulegen und wieder – wie schon des Öfteren in seinem erst 19-jährigen Leben – unerreichbar für seine überrumpelten Eltern zu sein. Was sich im Anschluss an dieses Telefonat zwischen Dennys Eltern Red und Abby abspielt, könnte weder treffender formuliert noch genauer beobachtet sein: Abby will das Gespräch haargenau wiedergegeben haben, was Red aber aufgrund seiner Überraschung nicht leisten kann. Aber er bemüht sich redlich. Absurd wird die Szene – von außen unbeteiligt betrachtet sogar äußerst witzig – am Schluss, als Abby, endlich ruhiger, in den Armen ihres Mannes einschläft, der jedoch (obwohl er doch der männlich-pragmatische Typ zu sein scheint) noch lange vor sich hin murmelnd versucht, sich an den genauen Wortlaut von Dennys Offenbarung zu erinnern.
Schon diese Anfangsszene zeigt die großen Stärken Anne Tylers: unglaublich genaue Beobachtung, treffsicherer Stil und Sprache, höchste Empathie und die Fähigkeit, Situationen absolut authentisch zu zeigen. Und als Leser hat man damit das Glück, nach sieben sehr kurzweiligen Seiten mitten in der Geschichte eingetaucht zu sein. Ohne die Chance eines Entkommens.
Das, was Abby und Red nicht nur eine Nacht beschäftigt, was sie ihren anderen Kindern nicht erzählen, weil sie finden, ihr Sohn solle das selbst tun, wird im Übrigen nie wieder Thema sein. Weder sie noch Denny sprechen jemals wieder darüber. Viel Lärm um nichts also?
Eltern machen sich häufig zu schnell und zu viele Gedanken über ihre Sprösslinge, jeder der Kinder hat, weiß um diese Falle. Doch nun stellt sich die Frage, ist das, was wir als Leser über die Familie Whitshank mit absoluter Klarheit zu wissen glauben, auch tatsächlich die ganze Geschichte? Natürlich nicht. Anne Tyler wäre nicht Anne Tyler, beleuchtete sie ihre Figuren nur von einer Seite. Denn so ist es doch im (wahren) Leben. Die verschiedenen Rollen, in die jede Person schlüpft, schlüpfen muss, ergeben schließlich ein besseres, weil abgerundeteres Bild – Vollständigkeit jedoch wird es nie geben. Und die gut gehüteten Familiengeheimnisse tragen das Ihre dazu bei.
Als meine Großmutter starb, vermachte sie mir ihre Tagebücher und Briefe. Briefe und Postkarten, die sie von meinem Großvater (ihrem zweiten Mann) während seiner Montagetätigkeiten aus den verschiedensten Ländern erhalten hatte und die mir, der Enkelin, die immer großen Respekt, ja etwas Angst, vor diesem meist mürrisch dreinblickenden, hochgewachsenen, stattlichen Mann hatte, einen anderen, liebevollen Menschen zeigten, der die Liebe einer der großherzigsten und liebevollsten Frauen, die ich bisher kennenlernen durfte, durchaus schätzte und verdiente.
Genau das ist auch, was Anne Tyler uns in Bezug auf ihre Figuren schenkt: Sie lotet sie nach allen Seiten aus, um uns eines zu sagen: Wage nie, etwas zu bewerten oder zu beurteilen, bevor Du alle Seiten kennst.
Beziehungen entstehen und entwickeln sich, zerbrechen oder werden vertieft, können aber immer nur beurteilt werden, wenn man selbst ein Teil davon ist. Innerhalb von Familien wird das noch schwieriger – ist man doch wie durch ein unsichtbares Band aneinander gebunden, ob man möchte oder nicht. Lösen lässt es sich nur sehr schwer und meist unter Schmerzen – häufig nicht komplett.
Es gibt eine Theorie, die besagt, dass es innerhalb einer Familie immer eine Person geben muss, die aus dem Gefüge ausschert, damit die anderen mit sich und untereinander in Balance bleiben können. Ein durchaus tröstlicher Gedanke, wie ich finde. Bei den Witshanks fällt diese Rolle also Denny zu, der das selbst auch erkennt. Gebeten, dass er sich in Zukunft doch öfter melden und nicht wieder komplett von der Bildfläche verschwinden solle, antwortet er:
„Geht klar. Ich kann doch nicht einfach verschwinden; die brauchen mich, weil ich für Dramatik sorge.“
Mit Der leuchtend blaue Faden ist Anne Tyler ein großartiger Roman gelungen, dessen Konzeption so leichtfüßig daherkommt, dass man sie glatt übersehen könnte. Man sollte diesen Roman nicht verpassen, zeigt er doch, dass Familie sein nicht immer leicht ist und man gerade deshalb seine Schwierigkeiten damit haben DARF.
thursdaynexts Sicht der Dinge:
Buchdetails
- Aktuelle Ausgabe : 01. März 2015
- Verlag : Kein & Aber
- ISBN: 978-3-0369-5712-8
- Gebunden: 452 Seiten