Ein Fels, so weiß

Eigentlich wollte ich heute „Keine gute Geschichte“ von Lisa Roy vorstellen, aber, kleines organisatorisches Problem: Ich habe das Buch verliehen und noch nicht wieder zurückbekommen. Nur so aus dem Gedächtnis würde ich dem Buch aber nicht gerecht werden mit meiner Besprechung, also werde ich es hoffentlich an dieser Stelle zu einer anderen Zeit ausführlicher besprechen – schon jetzt an alle, die sich ein bisschen fordern wollen, keine Wohlfühllektüre suchen, lest das Buch! Es ist anstrengend, aber die Anstrengung wert 🙂

So, nun aber zum „Ersatzobjekt“! Anna Hope ist vielen Buchfans sicherlich ein Begriff, spätestens seit ihrem Buch „Was wir sind“ (übersetzt von Eva Bonné) – ein Buch, das oft gekauft wurde bei uns in der Buchhandlung, das ich aber nie gelesen habe. Nun bin ich gerade in den letzten Zügen des neuen Romans der Britin, die Englische Literatur und Schauspiel studiert hat und die mit ihrem ersten Werk bereits auf der Shortlist des National Book Awards für den besten Debütroman stand.

„Der weiße Fels“ (in wunderbarer Übersetzung ebenfalls von Eva Bonné) spielt in Mexiko, einer Umgebung, die mich gereizt hat, da all meine anderen Romane, die ich in letzter Zeit las, in Europa oder Nordamerika spielten und somit in einem sehr gewohnten kulturellen Umfeld.

Bereits auf den ersten Seiten war ich drin in der Geschichte. Eine bildhafte Sprache, die mich sofort in die Szene mitnahm, ich saß mit dabei in der Bruthitze, im Auto auf der Fahrt von Mexico City nach … irgendwo. Der Stil ist spannend gewählt, denn obwohl die Sprache anschaulich und bildhaft ist und mich hineinzog, ist eine größtmögliche Distanz eingewoben, denn die weibliche Protagonistin wird schlicht „die Schriftstellerin“ genannt, bekommt keinen eigenen Namen. Identifikation mit dieser Figur offensichtlich nicht erwünscht – oder doch zumindest mit Absicht erschwert. Eigentlich ist der Blickwinkel, aus dem erzählt wird, der der Schriftstellerin. Sie könnte als normale Ich-Erzählerin fungieren, die Story wäre dieselbe, doch die sprachlichen Mittel werden hier vermischt – zumindest empfinde ich es so. Es ist ein bisschen auktoriale Erzählweise, ein bisschen personale Erzählweise – eine gelungene Mischung. Ich mochte das sehr, einerseits diese „Innenansicht“, andererseits diese Distanziertheit – ein cooler Move, würden meine Teeniemädels sagen ;-).

Wir sind also zuerst zeitlich im Jahr 2020 in Mexiko, eine Frau mit (Noch-)Ehemann und kleiner Tochter reisen mit anderen Personen in einem Van durch die Bruthitze. Warum? Es erschießt sich nicht gleich, warum diese merkwürdige Gruppe zusammen ist. Zuerst dachte ich einen kurzen Moment, es gehe um die Flucht dieser Menschen aus Mexiko nach Nordamerika, so angespannt und entbehrungsreich wirkte das Setting auf mich, doch dann erklärt sich die Lage zunehmend, man versteht, weshalb sie unterwegs sind. Sie wollen zu einem bestimmten Felsen, jeder aus anderen Gründen.

Das nächste Kapitel spielt 1969, die Hauptfigur ist ein Sänger, sehr berühmt (ich hatte die U4 nicht gelesen und kapierte erst später, um wen konkret es sich handelt), aber schon leicht über den Zenit seines unfassbaren Ruhmes. Der Körper nicht mehr so agil und schön, sondern von Drogen und Alkohol angegriffen, aufgedunsen, teigig. Losgelöst vom Rest seiner Band, verbringt er alleine Tage in einem Hotel am Meer und auch er begibt sich auf den Weg zu einem weißen Felsen.

Mit dem nächsten Kapitel wechseln wir wieder die Zeitebene, nicht aber die Umgebung. Nun befinden wir uns 1907 mit zwei Schwestern des indigenen Yoeme-Stamms auf einem Schiff, auf dem sie sich, ebenfalls gequält von einer unglaublichen Hitze, unfreiwillig fortbewegen, denn sie wurden verschleppt, aus ihrer Heimat gerissen und schippern nun, zusammen mit vielen anderen, die das gleiche Schicksal teilen, in eine ungewisse Zukunft. Eine der Schwestern ist schwer verletzt und mittels Erinnerungsrückblenden der gesunden Schwester erfahren wir, wie es zur jetzigen Situation der beiden kam.

Cut. 1775 begleiten wir einen Leutnant, erfahren viel über seinen Werdegang – seine Träume als Junge, seinen Wissensdurst, seine Passion. Und auch bei ihm und den beiden Schwestern aus dem vorherigen Kapitel rückt ein Fels in den Vordergrund.

Der formale Aufbau des Romans ist spannend angelegt: Pro Schicksal ein Kapitel, dann kommt der sagenumwobene Fels selbst zu Wort. Auch er bekommt ein Kapitel zugeteilt – und danach geht es rückwärts, angefangen mit dem Leutnant im Jahre 1775, wieder weiter mit den anderen Protagonisten. Im letzten Kapitel erfahren wir dann, wie es der Schriftstellerin vom allerersten Kapitel im Jahr 2020 kurz vor Ausbruch der Corona-Pandemie in Mexiko ergeht.

Ich bin derzeit beim „Fels-Kapitel“, also mittendrin, und kann nur sagen, dass mich das ganze Setting unglaublich fasziniert. Trotz oben beschriebener bewusst eingesetzter Distanziertheit zieht einen der Plot soghaft in die verschiedenen Stories hinein und, obwohl ich das Ende noch nicht kenne, gebe ich bereits jetzt eine ganz klare Leseempfehlung.

Erfrischend anders, sowohl der Schauplatz als auch die Wahl der erzählten Geschichtsstränge. Schön!!

„Der weiße Fels“ von Anna Hope ist im März 2023 bei Hanser als gebundene Ausgabe erschienen. Zu mehr Informationen kommt man per Doppelklick auf das im Beitrag angezeigte Cover oder auf den Verlagsnamen.

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