Fernweh – ein Gefühl, das ich mir in den kalten und viruslastigen Monaten der Pandemiezeit grundsätzlich versage. Man wird sonst ja doch schwermütig. Aber manchmal passiert es eben, dass es einen trotzdem überkommt, wenn man ein Buch liest, in dem andere Länder beschrieben werden und das dann auch noch auf eine derart anschauliche, fast schon haptische Weise, dass man alles vor sich sieht, förmlich die andersartigen, viel würzigeren Düfte riecht … und dann gibt es kein Halten mehr: Das Fernweh überflutet einen!
So erging es mir bei Thommie Bayers Roman „Das Glück meiner Mutter“. Jahrzehnte hatte ich nichts mehr von ihm gelesen, dabei war „Einsam, Zweisam, Dreisam“ zu meiner Studienzeit eines meiner absoluten Lieblingsbücher … Manchmal verliert man gute Autoren tatsächlich aus den Augen im Laufe eines Lebens. So erging es mir auch mit Markus Seidel, den ich ebenfalls während des Studiums sehr verehrte, mit seinen Büchern „Freischwimmer“ und „Umwege erhöhen die Ortskenntnis“.
Nun bekam ich den vorliegenden Roman von Bayer ganz unverhofft von einer Freundin geschenkt, war anfangs skeptisch, geriet dann aber doch in den Sog der Geschichte. Netter Sideffect: Der Wohnort des Protagonisten ist Nürnberg und anfangs tummelt er sich auch mal in meiner alten Studienheimat Erlangen, weswegen ich endgültig von dem Buch eingenommen wurde 😉 Lange bleibt Phillip Dorn, Drehbuchautor, allerdings nicht in seiner deutschen Heimat, sondern nimmt sich nach Beendigung seines aktuellen Schreib-Projekts, dem Tod seiner Mutter, die er heiß und innig geliebt hat, zu der er aber gleichzeitig auch immer ein ambivalentes Verhältnis hatte, und der Trennung von seiner Langzeitbeziehung Bettina, eine durchaus wohl verdiente Auszeit und reist nach Italien.
Italien ist sein Sehnsuchtsort, dort kommt er zur Ruhe, fühlt sich wie in einem zweiten Zuhause, denn er spricht fließend Italienisch und kennt durch seine Mutter die italienische Kultur und Lebensart bestens. Dabei war seine Mutter ebenfalls Deutsche – und doch immer war da die große Liebe zu diesem Mittelmeerland.
Die Eltern hatten eine schwierige Beziehung, der Vater sprach ab einem gewissen Moment kein Wort mehr mit seiner Frau – nur nach außen hin, als Pfarrersfamilie, pflegten sie das perfekte Bild einer gleichberechtigten Beziehung. Viele bewundernde Blicke folgten diesem vermeintlich idealen Paar – doch innerhalb der Pfarrhausmauern herrschte eisiges Schweigen. Was war passiert? – Wird von mir nicht verraten.
Doch was man sagen kann, ist, dass die Mutter schließlich immerhin allein auf Reisen geht, auch schon, als Phillip noch ein Jugendlicher ist – und eines Tages fragt sie ihn tatsächlich, ob er mit ihr gehen würde nach Italien, sie habe dort jemanden kennengelernt, sie könnten dort einen neuen Start versuchen. „Ohne den Alten?“ fragt Phillip erbarmungslos – und das fasst in einem Satz zusammen, wie herzlich das Verhältnis des Sohnes zum Vater ist. Trotz mangelnder Zuneigung zum eigenen Vater ist Phillip aber dennoch nicht bereit, sein gerade aufkeimendes soziales Leben in Deutschland aufzugeben: Er spielt in einer Band, verliebt sich das erste Mal – wer will da schon wegziehen?
Die Mutter verübelt es ihm nicht, spricht in der Folge nie wieder davon und geht selbst auch nicht fort.
Später, als Erwachsener, bekommt Phillip immer öfter ein schlechtes Gewissen, er denkt häufiger darüber nach, was er damals, egoistisch und wenig weitschauend, wie man als junger Mensch eben ist, vielleicht verhindert hat. All diese Themen bewegen den mittlerweile auch schon in der zweiten Hälfte seines Lebens angekommenen Protagonisten, wenn er so durch die Gegend fährt mit seinem jugendlichen Mini, zu dem er eine durchaus außergewöhnliche Beziehung pflegt, auf seiner Reise nach Italien und auf seinen Ausflügen in diesem schönen Land. Er sortiert seine Gedanken, zieht Schlussstriche, entdeckt Neues.
Als er an seinem Ferienort auf schräge Weise zur Retterin seiner schönen Nachbarin wird, erwartet man schon unwillkürlich die längst überfällige Liebesgeschichte. Und die Anfänge deuten auch durchaus darauf hin: Heimlich beobachtet er sie beim Nacktbaden in seinem Pool – und auch wenn er sich dann immer wieder selbst schilt, ob seiner peinlichen „Beule in der Hose“, ist das mein einziger Kritikpunkt an diesem Roman. Diese nervige Beule in der Hose wird mir ein paar Mal zu oft angesprochen, als dass man drüber hinweglesen könnte. Wenn eine Geschichte so in sich gelungen ist, rund und mit Überraschungen gespickt, ist es nicht nötig, neben dem eh schon entstehenden Knistern in der Luft, wenn die beiden zusammen die Nächte durchreden, von pubertären Begleiterscheinungen des über 50jährigen Protagonisten zu berichten. Das hat bei mir ein paar Punkte in der B-Note gekostet.
Die Geschichte ist leicht, mediterran, überraschend und endet, eigentlich eher unerwartet, wieder im grauhimmligen Deutschland – was der Protagonist aber nicht schlimm findet, sondern wo er durchaus zufrieden feststellt, wie gut es sich auch hier leben lässt.
Wer an eine einfach gestrickte Alte-Damen-Lektüre denkt aufgrund des Titels, liegt hier falsch: Lesen kann das Mann oder Frau, jung oder alt. Was ein wenig bräsig startet, nimmt schnell Fahrt auf und startet durch zu einer überzeugenden Geschichte, die das Fernweh in uns anfacht …
„Das Glück meiner Mutter“ von Thommie Bayer ist 2021 im Piper Verlag als Hardcover erschienen. Informationen zum Titel und dem Verlag durch einen Doppelklick auf das Buchcover oder den Verlagsnamen.
Hallo Lesendes Satzzeichen,
Deine aktuelle Besprechung mit kritischem Akzent und dem Fernweh oder Reisefieber erinnert mich, dass ich das Buch ebenfalls gelesen hatte. Es steht noch auf der Bücherkommode, ich blättere es durch und finde keinen bleistiftigen Anstrich, den ich jetzt zitieren könnte. Dies spricht nicht gegen das Buch, sondern für die flüssige Lektüre.
Thommie Bayers Thema und Titel „Das Glück meiner Mutter“ assoziierte ich auch mit der Muttergeschichte von Peter Handke: „Wunschloses Unglück“.
Viele Grüße aus der Erlanger Vorstadt Nürnberg
Bernd
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