Das Jahr des Affen 2016 – für Patti Smith eines voller Abschiede, Verluste, politisch-gesellschaftlicher und ökologischer Befürchtungen und dennoch ein Jahr, dem sie durch die ihr eigene Art, das Leben in Kunst zu verwandeln auch Positives abgewinnen kann. Und das Beste daran: Daraus wurde ein großartiges Buch, das uns Leser*innen mit auf die Reise nimmt, ganz nah und direkt.
Ein Buch wie ein Traum, bei dem man nie so genau weiß, was Realität, was Fiktion, was realer oder fiktiver Traum war oder ist und der einem Gefühle vermittelt, die selbst nach dem Aufwachen noch extrem real vorhanden sind. Manchmal nebulös mit unklarer Sicht aber nicht direkt verwirrend, eher spannend und auf jeden Fall einnehmend und poetisch. Patti Smith ist eine großartige Beobachterin mit der wunderbaren Gabe, uns ihre Eindrücke durch ihre Kunst mitten ins Herz zu schicken:
„Ich saß auf der niedrigen Steinmauer und sah zu, wie in der Ferne die Lichter des WOW erloschen. Als wollten sie antworten, erschienen die Sterne nacheinander am Himmel, weit weg und ewig präsent.“
Am Neujahrstag des Jahres 2016 beginnt Patti Smith die Reise, die sie ursprünglich gemeinsam mit ihrem Freund Sandy Pearlman antreten wollte. Kurz vor dem Beginn des neuen chinesichen Jahres, des Jahres des Affen. Sandy liegt derweilen nach einer plötzlichen Hirnblutung im Koma. Die traditionell zum Jahresende absolvierten Konzerte im Fillmore in San Francisco finden dieses Mal ohne ihn im Publikum statt. Und so begibt sich Patti ohne ihn nach Santa Cruz ins Dream Motel.
„Ohne Kaffee setzte ich mich auf eine Bank vor dem Café und ging noch einmal die Ränder der vorigen Nacht durch. Es war der letzte von drei aufeinander folgenden Abenden, die wir im Fillmore in San Francisco auftraten, und ich zupfte gerade die Saiten meiner Stratocaster, als sich ein Typ mit fettigem Pferdeschwanz vorbeugte und auf meine Stiefel kotzte. Das letzte Röcheln von 2015, ein Sprühregen von Erbrochenem zur Einführung in das Neue Jahr. Ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? In Anbetracht der Weltenlage schwer zu sagen.“
Eigentlich hatte sie sich gemeinsam mit ihrem Bandkollegen Lenny Kaye, als man Sandy bewusstlos aufgefunden und ins Krankenhaus nach Marin County gebracht hatte – es war der Morgen ihres ersten Fillmore Konzerts – vorgenommen, bei ihm zu bleiben, doch es gibt allerlei Verpflichtungen. Wirklich zu tun gibt es nichts für sie im Krankenhaus und kurz nach ihrem Aufbruch nach Santa Cruz reift in ihr die Einsicht, dass es nicht darauf ankommt, am gleichen Ort zu sein, um sich verbunden zu fühlen.
Während die ersten Kapitel von Patti Smiths „Im Jahr des Affen“ manchmal wie eine Fata Morgana zwischen Rückblick und Zukunft, Gewissheit und Hoffnung auf die Leserin erscheinen, bleibt der Eindruck, dass Smith selbst doch immer ganz in der Gegenwart bleibt – dessen gewahr, was aktuell passiert. Einer ihrer engsten Freunde liegt im Koma, ein anderer ist seit längerem schwer und lebensbedrohlich erkrankt und sie selbst nähert sich unausweichlich ihrem 70. Geburtstag, dessen Zahl ihr zumindest surreal vorkommt.
Im Februar angekommen, ändert sich ihr Blick auf die Geschehnisse, während der Ton ihres Schreibens bleibt. Im beginnenden März bringen Gedanken zu Marcus Aurelius Meditationen und Albrecht Dürers Hieronymus im Gehäus, die sie daran gemahnen, das Carpe Diem nicht zu vergessen. Sie will ihr 69.tes Lebensjahr nicht in einer Art Duldungsstarre verbringen und wehrt sich gleichzeitig à la Jimi Hendrix, sich vorschreiben zu lassen, wie sie ihr Leben zu führen hat. Ein Dilemma, das im Grunde genommen jeder reflektierte Mensch kennt. Bei aller Träumerei – und das ist durchweg als positiver Ausdruck gedacht – ist ihr Blick stets fokussiert.
Realität und Traum greifen ineinander. Ob die Menschen, die Patti Smith auf dieser Reise durch das Jahr 2016 trifft, real oder fiktiv sind, ist für den Genuss der Lektüre vollkommen unerheblich. So nah an die Gedankenwelt einer so großartigen Künstlerin und Frau, eines Menschen, der so sehr nur sie selbst ist, herangeführt zu werden, gleicht einem Traum und ist ein großes Geschenk. Vor allem, weil Patti Smith sich nicht scheut, ihre Ängste als solche wahrzunehmen und mitzuteilen.
Wir alle haben immer wieder unsere Kämpfe auszufechten. Oft mit uns selbst, weil wir glauben, jegliche Situation im Griff haben oder bekommen zu müssen. Patti Smiths auf vielen Ebenen so unglaubliches, wie schönes Buch zeigt, dass das manchmal nicht gelingen kann und auch nicht muss. Dabei helfen ihr die vielen Bücher, die vielen Geschichten, die selbst erlebten und erlesenen. Die Definition dessen, was einen aus der Bahn wirft, bleibt jedem selbst überlassen und eine Wertung von außen ist unzulässig.
Manchmal ist es Zeit, die wir brauchen, um mit neuen Bedingungen umgehen zu können, manchmal sind es andere Menschen und deren Anwesenheit, manchmal ist es die Einsamkeit, die uns hilft. Und häufig ist es etwas, das wir nicht mit Worten fassen können, ein Glaube daran, dass trotz der vielen Ungerechtigkeiten und schlimmen Dingen etwas Gutes, etwas Wunderbares passieren wird. Neben all dem Negativen, das derzeit auf unserem Planeten existiert, gibt es auch viel Schönes, das wir sehen müssen.
Während ich Patti Smith durch ihr persönliches Jahr des Affen folgte, wurde mir einmal mehr klar, dass es immer an uns selbst liegt, wie wir Dinge betrachten, wie wir uns abfinden oder gegen etwas ankämpfen. Natürlich haben wir nicht auf alles Einfluss und natürlich wissen wir nicht, was das Morgen bringt. Aber würden wir es wissen, wäre das nicht besser, als es nicht zu wissen. Es wird nie einen klaren Weg geben, nie die eine Wahrheit. Aber ein Gefühl, mit dem man alles, was man tut verbinden können sollte: Liebe.
Normalerweise lese ich ein Buch und notiere mir kleine Stichpunkte, klebe Zettel an Stellen, die mir wichtig, richtig oder bedenkenswert erscheinen, die ich für mich klar ziehen muss. „Im Jahr des Affen“ habe ich schreibend gelesen. Im Grunde habe ich so etwas wie ein Traumtagebuch meiner Lektüre geführt. Beeindruckt wie ich war, musste ich jedes Wort versuchen zu verstehen, jede Deutung sollte mir klar werden – bis ich merkte, dass genau das nicht im Sinne der Autorin war. Ich musste meine Fragezeichen nicht auflösen. Zumindest nicht jetzt.
Der Trost und die Erleichterung dieser Einsicht sind nur ein kleiner Teil, der die Magie dieses Buches (und das Wesen der Autorin) auf mich ausüben. Die Poesie, die im Aufbau, in der Sprache und Konzeption stecken, ist außergewöhnlich und zeugt davon, was für eine großartige Künstlerin Patti Smith ist. Gleichzeitig wird klar, dass gerade die Kunst es ist, die uns geistig gesund hält und ohne die wir innerlich verdorren. Absolute und dringende Leseempfehlung.
Mit großem Dank an Verlag und Autorin für das ganze Glas und nicht nur Scherben der Liebe.
Im Jahr des Affen von Patti Smith ist am 07. Mai 2020 als Hardcover im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen. Für mehr Information zum Buch per Doppelklick auf das im Beitrag abgebildete Cover oder direkt auf der Verlagsseite.
Ich habe schon ein wenig reingeblättert und das gefiel mir schon sehr gut. LG
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Ach cool, dann bin ich schon gespannt auf deine Meinung!
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Keine Ahnung – ich weiß von nichts.
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Just Kids liegt auch schon hier, das kommt auch bald dran. Ja, beeinruckend, wirklich. LG
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Ich lese im Moment ihr Buch „Just Kids“ und bin auch sehr angetan. Wirklich eine beeindruckende Frau mit vielen Talenten!
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Danke! gibt es denn neuere Musik von Patti Smith?
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Absolut. Ich verehre sie für ihre Musik und ihre Haltung schon lange, aber jetzt noch viel mehr. LG zurück in die alte Heimat! halt dich senkrecht
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Danke Bri,
Respekt für Patti Smith. Ihre Musik gehörte zur Zeit des Heranwachsenden.
Was für eine Phantasie, in Dürers Werkstatt zu schaffen!
Die Stundenuhr ist wohl ein passendes Memento Mori.
Schöne Grüße
Bernd
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Gerne, lieber Bernd. Schön, dass es gefällt. Das Buch ist wirklich ein Glücksfall und ich muss jetzt alles von ihr lesen. Wie sie direkt auf Dürer kommt, kann ich nicht ganz genau sagen. Aber sie ist eine immens belesene und künstlerisch äußerst vielseitig interessierte Vollblütkünstlerin. Ihre Bezüge auf die Literatur sind dermaßen vielfältig, dass man sich eine Leseliste erstellen kann. Zudem fotografiert sie seit langem und im Buch sind ihre Fotografien abgedruckt. Und eben auch Dürers Hieronymus im Gehäuse – sie gibt auf jeden Fall preis, dass sie sich immer schon gewünscht hat, zu Dürers Zeiten in seiner Werkstatt mitarbeiten zu können. Die Stundenuhr, die auf dem Stich zu sehen ist, ist ihr Bezug. Die verrinnende Zeit, ihre Lebenszeit, die ihr noch bleibt, die Stundenuhr quasi sie selbst … Lies das Buch, es ist einfach großartig. LG, Bri
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Danke, Bri,
wie kommt Patti Smith denn auf Dürers Hieronymus?
Viele Grüße
Bernd
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