Die Hölle auf Erden

Istanbul Istanbul von Burhan SoenmezEingepfercht wie Tiere hocken die vier Leidensgenossen im Istanbuler Gefängnis. Sie sind die Insassen einer der vielen Zellen, die sich aneinanderreihen wie Perlen an einer Kette. Schräg gegenüber sind ebenfalls Zellen. Menschenverachtend, zu klein, dreckig, ohne Betten, ohne WC, ohne Wasser, ohne Brot. Wenn die Tür aufgeht, heißt das entweder, dass noch jemand in dieses unwürdige Loch geschmissen wird oder, dass einer von ihnen zum Verhör abgeholt wird.

Die vier Leidensgenossen, das sind Student Demirtay, der Doktor, Barbier Kamo und Kheylan Dayı. Sie sind unterschiedlich alt, haben ganz verschiedene Bildungsniveaus und sind hier, an diesem kleinen Fleckchen Erde, dennoch eine Gemeinschaft. Da draußen, im schönen Istanbul – oder doch zumindest im Istanbul „da oben“ – hätten sich ihre Wege aller Wahrscheinlichkeit nach nie gekreuzt, doch hier, im Elend, laufen die vier Lebenswege zusammen.

Burhan Sönmez hat mit „Istanbul, Istanbul“ einen schonungslosen, brutalen Roman verfasst, der dennoch nicht ohne Schönheit ist. Die Sprache ist orientalisch-blumig in ihren unschuldigsten Momenten. Dann nämlich, wenn die Gefangenen einander (und vor allem sich selbst) Geschichten erzählen, Parabeln, Weisheiten, um nicht verrückt zu werden in dieser Hölle. Sie erzählen gegen die Angst, denn wenn sie schweigen, kommen die Gedanken. Daran, was mit dem Mädchen von gegenüber ist, auf deren blutige Unterlippe und zugeschwollenes Auge der Student Demirtay einen Blick erhaschen konnte. Daran, was mit den Lieben zu Hause ist. Daran, was wohl heute die perfiden Folterideen der enthemmten Wächter sein könnten. Und vor allem daran, wer als nächster abgeholt werden könnte. Ans Rauskommen denkt keiner mehr. Das Überleben im Gefängnisalltag erscheint absurderweise extrem wichtig, obwohl das Überleben ja keinerlei Aussicht auf Verbesserung des Zustandes bietet. Dennoch: Es liegt wohl in der Natur des Menschen, auch in der Hölle noch einen Überlebenswillen zu entwickeln.

Die Sprache verliert verständlicherweise ihre Schönheit, sobald der Autor die erschütternden Zustände und Erlebnisse im Gefängnis schildert. Schonungslos, brutal, plastisch wird sie dann und rührt einen zutiefst. Wer könnte so etwas lesen, ohne in unendlichem Maße betroffen zu reagieren. Eine ohnmächtige Wut macht sich breit, dass es Orte gibt auf dieser eigentlich so schönen, freundlichen Welt, an denen die beschriebenen Dinge keine Fiktion sind, sondern bittere Realität. Dass es Menschen gibt, die sich wie Tiere verhalten und andere wie Tiere halten, sie quälen, erniedrigen, verletzten, demütigen.

Sönmez‘ Buch ist desillusionierend, trotz seiner schönen Zwischenstücke. Das kommt nicht von ungefähr, schließlich hat Sönmez selbst Höllisches am eigenen Leibe erfahren. Als Mitglied des türkischen Menschenrechtsvereins IHD und Gründungsmitglied der Stiftung TAKSAV wurde er 1996 bei Übergriffen durch die türkische Polizei schwer verletzt.

Wer ein stabiles Nervenkostüm besitzt, der sollte hineinlesen in dieses Dokument der Weltgeschichte, das einem brandaktuell vorkommt, obwohl es bereits vor drei Jahren geschrieben wurde – aber traurigerweise wird es wohl immer irgendeinen Flecken auf dieser Welt geben, an dem das hier Beschriebene aktuell die Realität darstellt. Man kann ganz egoistisch für sich nur wünschen, dass man niemals selbst an einem solchen Ort sein wird.

Buchdetails:

  • Aktuelle Ausgabe: 4.9.2017
  • Verlag: btb
  • ISBN: 978-3-442-75700-8
  • Gebunden mit Schutzumschlag: 288 Seiten

 

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