Das Buchjahr 2017 war für mich – wie schon mehrfach erwähnt – eines der besten, was die Ausbeute an feinstem Buchstoff angeht, zumal es mir ein paar Autoren beschert hat, die ich bisher nicht kannte, deren Werke ich mir aber nun sukzessive einverleiben werde. Habe ich einmal ein Buch eines Autors goutiert, muss der bereits verfasste Rest ebenso angeschafft werden. Bibliophage Veranlagung eben, da kann man nichts machen.
Einer der interessantesten Autoren, die ich 2017 entdeckt habe, ist Kent Haruf. Der Name sagte mir bis dato nichts, was an Hand der Meisterschaft seiner Texte mehr als schade ist. Das Buch, das ihm seinen großen Durchbruch bescherte, erschien zwar bereits vor Jahren auf Deutsch bei btb, entging mir aber auf mysteriöse Weise komplett. Vielleicht lag es an der mir nicht erklärlichen Übersetzung des Originaltitels „Plainsong“ in „Flüchtiges Glück“, die mit diesem wunderbaren, tröstenden und heimelig wirkenden Roman so gar nichts zu tun hat. Eigentlich heißt Plainsong übersetzt nämlich Gregorianischer Gesang oder auch Cantus planus, was Haruf selbst „eine einfache und schlichte Melodie oder Weise“ nannte. Lied der Weite mag schlicht und einfach erscheinen, doch bei näherer Betrachtung ist dies einer der schönsten, perfektesten und zeitlosesten Romane, die ich kenne. Einem Vergleich mit meinem geliebten Stoner von John Williams hält Harufs Werk, trotz der durchaus unterschiedlichen Herangehensweisen, problemlos jederzeit stand.
Holt in Colorado ist der Ort, an dem Harufs Romane spielen. Ein fiktiver Ort, der authentischer nicht dargestellt sein könnte. Das Leben der Menschen dort ist trotz gewisser Härten einfach und wohltuend unkompliziert. Es gilt die Maxime, wenn jemand Hilfe benötigt und kann man sie bieten, wird sie gewährt, ohne Hintergedanken, ohne Erwartung einer Gegenleistung. Eben weil man das so macht. Klingt traumhaft oder? Dennoch ist das Leben in Holt auch kein reines Zuckerschlecken. Denn nicht alle Menschen halten sich an diese Maxime.
Victoria ist siebzehn und schwanger. Der Kindsvater weiß von nichts und lässt sich auch schon länger nicht mehr blicken. Ihre Mutter erahnt die Schwangerschaft, bevor Victoria sich selbst sicher ist und setzt ihre Tochter vor die Tür. Victorias Vater hat die Familie schon vor Jahren verlassen. So bleibt dem Mädchen nichts anderes übrig, als sich ihrer Lehrerin Maggie Jones anzuvertrauen, die es zunächst bei sich aufnimmt. Doch Maggie kümmert sich bereits um ihren eigenen dementen Vater und das Zusammenleben mit ihm gestaltet sich schwierig. Bald ist klar, eine andere Lösung muss her. Währenddessen kämpft Maggies Kollege Tom Guthrie damit, sich und seine beiden Söhne gefühlsmäßig betrachtet über Wasser zu halten. Seine Frau ist depressiv und verbringt ganze Tage in ihrem abgedunkelten Zimmer. Die beiden Jungs, neun und zehn Jahre alt, geben ihr bestes, um ihre Mutter zurück ins Familienleben zu holen, auch Guthrie selbst versucht vieles, doch seine Kraft reicht eben nur für seine Jungs und sich selbst. Letztendlich verlässt Ella Guthrie Mann und Söhne und versucht in Denver bei ihrer Schwester Fuß zu fassen. Und letztendlich sind da noch die beiden McPherons. Zwei alte Männer, Brüder, deren Eltern frühzeitig verstarben. Seitdem leben die beiden auf der elterlichen Farm und bewirtschaften diese gemeinsam. Es ist ein einfaches, hartes und einsames Leben. Dennoch sind die zwei keine griesgrämigen Kauze, sondern einfach mit der Zeit nur ein wenig entwöhnt, was andere Menschen angeht. Brauchen sie Hilfe mit ihren Kühen, so hilft Guthrie gerne. Weil er weiß, dass es umgekehrt genauso wäre. Und so hat Maggie Jones die rettende Idee, wo Victoria bis zur Entbindung und hoffentlich darüber hinaus, bleiben kann: auf der Farm der McPherons.
Was sich da im Zusammenspiel der einzelnen Personen entwickelt ist ein wunderbares Netz an sozialen Verbindungen, die halten werden. Auch wenn zwischendurch mal der eine oder die andere einen neuen Weg einschlägt, die Rückkehr ist immer möglich und eine zweite Chance bekommt jeder, der es ernst meint und aufrichtig darum bittet. Was für ein schöner Gedanke, würden viel mehr Menschen so handeln, wie es Harufs Protagonisten tun, wäre die Welt schon ein klein wenig besser. Ohne großen Groll erkennen, wenn etwas zu Ende ist – Reisende soll man ziehen lassen heißt es so schön. Vertrauensvoll neue Wege einschlagen und vorwurfslos ein zweites Mal eine Tür aufmachen, wenn es benötigt wird. Das alles heißt nicht, dass Harufs Figuren weich, naiv oder gar dumm wären. Ganz im Gegenteil, denn sie machen klar, dass es zwar eine zweite Chance gibt, nicht aber eine dritte. Und um Hilfe zu bekommen, muss man um sie bitten. Voraussetzungen, die zeigen, dass die Menschen Grenzen erkennen, selbst setzen und sowohl die eigenen als auch die der anderen respektieren können.
Das Meisterliche an Harufs wunderbarem Lied der Weite aber ist tatsächlich nicht nur die Übermittlung dieser Botschaft, sondern die Form in der das geschieht. Haruf hat es nicht nötig, zu psychologisieren, er sucht oder findet keine Entschuldigungen oder Gründe für welches Verhalten auch immer, denn er wertet nicht. In vermeintlich schlichter, einfacher Sprache zeigt er den Leser*innen, worauf es für ihn im Leben ankommt: Dankbarkeit, Demut, Nächstenliebe und wenn es sein muss, eine geballte Faust, die gegen Ungerechtigkeiten, Schummeleien und Lügen aufbegehrt. Manchmal wird seine Art zu schreiben als ein von außen Betrachten wahrgenommen, das die Leserschaft auf Distanz hält. Das sehe ich komplett anders. Ich befand mich mitten in Holt, mitten in der Geschichte, die Haruf unprätentiös und völlig kitschfrei entwickelt und dabei wunderbare Bilder findet für die Versuche der beiden McPherons, tatsächlichen Kontakt zu ihrer neuen Mitbewohnerin herzustellen. All das ist in seiner perfekten Gänze so wohltuend wie der lang ersehnte erste Strahl der Frühlingssonne nach einem trüben Winter. Das Lied der Weite entfaltet einen gewaltigen Sog und eine Wärme, dass einem buchstäblich das Herz aufgeht. Das erste Lesehighlight des Jahres 2018!
Absolute Leseempfehlung und großer Dank an den Diogenes Verlag, der mir nach Dennis Lehane nun einen weiteren amerikanischen Autor zugängig gemacht hat, den ich sonst nie entdeckt hätte.
Eine weitere, begeisterte Besprechung findet ihr bei unserer lieben früheren Mitstreiterin letteratura.
Buchdetails
- Aktuelle Ausgabe: 12. Januar 2018
- Verlag: Diogenes
- ISBN: 978-3-257-07017-0
- Gebunden: 384 Seiten
Et tu brute😉
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ja, das hast Du schön gesagt, Ines. Es umfängt einen richtig. Man lebt mit und … ach, ich kanns gar nicht richtig ausdrücken.
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Ja, absolut. Stoner ist zwar anders, aber diese Perspektive von außen, ohne diese Bewertungen, ganz großartig. Und so vermeintlich schlicht … musst Du wirklich. Es tut einfach echt gut. Entschleunigt.
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Thurs, es ist ganz wunderbar! Vielleicht könnte man das anfangs noch „übersehen“, aber je weiter man liest, desto mehr wird man reingezogen – mir ging es jedenfalls so.
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Hoihoi … im Rang von John Williams? Dann muss ich wohl doch mal was von ihm lesen…
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Das freut mich!
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Ach…mal wieder überzeugt. Kent Haruf ist auf der gedanklichen Wunschliste 😉
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