Es mag abgedroschen oder pathetisch klingen, aber es gibt Bücher, die sind so ganz, dass kaum etwas über sie gesagt oder geschrieben werden kann. Sprache greift in diesen Fällen zu kurz, Gefühle können nicht im entferntesten transportiert werden, obwohl diese Bücher genau dies schaffen: durch Sprache emotionale Räume und Atmosphäre bilden. Die Allgemeingültigkeit mit der sie dadurch aufwarten ist ihr großes Potential und der Grund für einen breiten Zuspruch der Leserschaft. Meist sind sie rar und doch gibt es sie immer wieder. Diese Regaljuwelen.
Regaljuwel
In den letzten Jahren fanden sich bei diesen Regaljuwelen häufig Wiederentdeckungen englischsprachiger Autoren, wie zum Beispiel John Williams Stoner oder Dorothy Bakers Zwei Schwestern. Neuere Bücher aus dem original deutschsprachigen Raum waren kaum dabei. Doch nun ist im Dumont Verlag ein Buch erschienen, das seit seinem Erscheinen für Glücksgefühle bei Lesern und im Verlag sorgt: Was man von hier aus sehen kann von Mariana Leky. Genau passend in Zeiten, in denen wir Allgemeingültigkeit schmerzlich vermissen und ihrer doch so dringend bedürfen, erzählt uns Leky eine Geschichte von Liebe, Tod, Trennung, Trauer, Glück und Trost.
Magischer Realismus
Stilistisch eigen, in deutscher Sprache mit Mitteln des magischen Realismus arbeitend, wie die stärksten Vertreter dieses Genres in der südamerikanischen Literatur, gelingt Leky trotz der thematischen Tiefe ein wunderbar frisches und luftiges Buch. Dieses nur als Sommerlektüre oder ähnliches zu titulieren, reicht bei weitem nicht aus. Denn genau diese Frische gepaart mit der erzählerischen Kraft, die Leky aufbringt, indem sie kleine Motive immer wieder auftauchen lässt, die dem Leser freudige Wiedererkennungsmomente schenken und gleichzeitig die Erzählfäden enger knüpfen, geht der deutschen Literatur sonst meist ab. Wiedererkennungsmomente gibt es natürlich auch in anderen Büchern zuhauf, aber meist kommen die so glatt und steril daher, dass man meinen könnte, diese Texte entstammten Schablonen. Das ist bei Leky nicht der Fall. Gerade die Brüche, die sie durch das für manche Leser skurril erscheinende Personal entstehen lässt, überziehen das ganze Buch mit diesem unbeschreiblichen Glanz des magischen Realismus. Charmant oder zauberhaft nennen das viele, verdammt gut konzipiert und handwerklich sauber durchgeführt mit einem großartigen Händchen für Dialoge nenne ich das.
Auf Lunge lesen
Über den Inhalt des Buches soll an dieser Stelle nicht wirklich viel gesagt werden, das kann man in nuce auf dem Klappentext nachlesen oder in anderen Besprechungen. Denn dieses Buch sollte man einfach losgelöst lesen und genießen, sich überraschen lassen. Man muss es einfach einatmen, inhalieren, kurz innehalten und wird dann Freude und Dankbarkeit ausatmen. Auf Lunge lesen, quasi.
Vielleicht ist auch das alles wieder schon wieder zu viel gesagt, vielleicht liegt es an meiner derzeitigen Lebensphase in der ich mich befinde, dass mich dieses Buch so sehr mitgerissen hat. Sicher aber ist: Mariana Leky geht wohltuend Anteil nehmend und authentisch damit um, wenn die Welt ihren Lauf nimmt. Obwohl ich nicht viel über den Inhalt sagen will, so muss ich doch ein Beispiel für das geben, was ich als wichtigste „Botschaft“ für mich identifiziert habe. Selma, die Großmutter der Erzählerin, hat von einem Okapi geträumt. Immer wenn sie solch einen Traum hat, stirbt jemand im Dorf. Nachdem dieser Tod, der das Dorf und seine Bewohner mehr erschüttert hat als ein Erdbeben der Stärke 10, eingetreten ist, steht Selma vor einem Zigarettenautomaten. Ihr Freund, der Optiker will sie davor bewahren, ihr vor Jahrzehnten bereits abgelegtes Laster wieder aufzunehmen, obwohl ihm der Satz im Moment des Ausspruchs bereits sinnlos erscheint: „Selma, das ist nun wirklich kein Grund, wieder mit dem Rauchen anzufangen.“ Selma antwortet einfach und wahr: „Dann sag mir einen besseren Grund.“ […] sag mir einen einzigen Grund auf der ganzen Welt, der besser sein könnte als dieser hier.“
Wenn schon der Tod eines Menschen nicht mehr Grund genug ist, verzweifelt zu sein und dieser Verzweiflung nachzugeben, was dann?
Wenn die Welt ihren Lauf nimmt
Es gibt immer wieder Momente im Leben, die einen anrempeln, wie die inneren Stimmen des Optikers ihn anrempeln und innehalten lassen. Dann muss man innehalten, diese Momente durchleben, nicht einfach darüber hinweg gehen, sonst wird man sie immer mit sich herumtragen. Und auch dann ist es nicht gewiss, ob sie einen so schnell verlassen. Genau darum weiß Mariana Leky und zeigt auf einfühlsame und unprätentiöse Weise, dass es nicht nur wichtig und richtig, sondern unser gutes Recht ist, auf solche Situationen angemessen zu reagieren. Mit Trauer, Ohnmacht, je nach individuellem Vermögen, jedoch immer mit Hingabe.
Mit genau solcher Hingabe zeichnet Leky auch die unterschiedlichen Personen, die den außergewöhnlichen Ort im Westerwald bevölkern. Dass sie so plastisch wirken liegt wohl auch an den eher ungewöhnlichen Bildern, die Leky einsetzt.
Im September kam mein Vater zu Besuch. […] Er wirkte überlebensgroß, wenn er zwischendurch bei uns vorbeikam und er nahm so viel Platz ein, dass wir uns neu arrangieren mussten wie Möbelstücke, die sich plötzlich in einer kleineren Wohnung wiederfinden. Wir stießen ständig aneinander, wir standen in Zimmerecken …
Bei den großen Lebensthemen wird natürlich auch die Liebe nicht ausgespart und so mag die weiterführende Geschichte und deren Ende dem einen oder der anderen etwas zu eingängig erscheinen, doch tut es der Geschichte im Ganzen keinen Abbruch, denn Mariana Leky zeigt, was deutsche zeitgenössische Literatur auch sein kann: gleichzeitig unterhaltend und dennoch groß. Und davon hätte ich persönlich gerne mehr.
So ist das also mit solchen Büchern, die so ganz sind, dass man nicht viel über sie sagen oder schreiben kann. Sie brennen ihre Nachbilder (wer das Buch kennt, weiß, was ich meine, wer es noch nicht gelesen hat, sollte das unbedingt schleunigst tun) in unsere Herzen und wärmen diese für lange Zeit. Vielleicht sogar für tausend Jahre zur See, tausend Jahre in den Bergen.
Buchdetails:
- Aktuelle Ausgabe, dritte Auflage : 01. August 2017
- Verlag : DuMont Buchverlag
- ISBN: 978-3-8321-9839-8
- Gebunden: 320 Seiten
Ach Ralf hör auf – da werd ich ganz verlegen. Das Buch ist einfach so – man muss es fühlen. Es lesen, genießen. Und eigentlich wollte ich ja gar nicht, weil es doch so auf allen Kanälen schon gehypt wird, aber dann lag es da in der Buchhandlung und musste mit ;))) Ob Du es ebenso lesen würdest, wäre sehr interessant. LG
LikeGefällt 2 Personen
Es gibt Bücher die verzaubern den Leser zu so einer wunderschönen, emotionalen Rezension. Man spürt, wie sehr dieses Buch in dein Wesen eingedrungen ist und dich gefangen hielt. Und dann möchte man es auch so erleben wie du es gefühlt hast. Danke für diese einfühlsamen Worte. Schöner kann man ein Buch nicht beschreiben.
LikeGefällt 2 Personen
Liebe Svenja, vielen Dank für den Link auf deinen schönen Blog. Da werde ich sicher immer wieder mal vobeisehen.
Ja, ich denke, man muss sich schon auf das Buch einlassen wollen, es hat einen ganz eigenen Ton, einen ganz eigenen Flow … es ist für manche Leser skurill, aber für mich ist das einfach nur wunderbar und literarisch-handwerklich großartige Erzählkunst. Manche Leser bemängeln, dass in dem Buch nichts passieren würde oder zu wenig, dabei passiert hier alles, einfach alles. Das Leben eben. Tränen – ja die waren auch da, aber nicht am Ende 😉 LG
LikeGefällt 1 Person
Ich habe dieses Buch geliebt! Als ich die letzte Seite gelesen habe und mit die Tränen in den Augen standen, wusste ich, dass Mariana Leky mit „Was man von hier aus sehen kann“ etwas Unbeschreibliches und Unvergleichliches geschaffen hat! Ich glaube dieses Buch wird jedem, ausnahmslos jedem gefallen, der einen Sinn für Literatur und Sprache hat! Liebe Grüße, Svenja
https://pantaubooks.wordpress.com
LikeGefällt 2 Personen