Unsere Welt ist schnelllebig, hektisch und fordernd. Wir rennen von einem Event zum nächsten. Durch das Internet mit Gott und der Welt verbunden, erfahren wir jeden Tag, jede Stunde von inspirierenden, spannenden Veranstaltungen, Ausstellungen, Happenings und Versammlungen. Nicht hinzugehen, ist fast schon unverzeihlich, sieh das Gute liegt so nah! Wer rastet, der rostet! Doch was tun? Wir haben nur 24 Stunden pro Tag Zeit, davon müssen wir ungeschickterweise auch noch ein paar Stunden dem Schlaf abgeben, bevor wir uns Hals über Kopf in den Alltag stürzen. Arbeit, Freunde sehen, Sport, vielleicht auch noch Familie, das alles muss/will untergebracht werden in diesem Zeitfenster, daneben noch ein paar nachbarschaftliche Verpflichtungen, ehrenamtliche Tätigkeiten, womöglich ein Hobby. Und zack – sind die paar Stündchen Tageszeit aufgebraucht, und die Liste der Dinge, die wir alle hätten machen können, aber nicht geschafft haben, ist schon wieder um ein paar Punkte länger.
Die Angst, etwas zu verpassen, bei dem schier erdrückenden Angebot, das von allen Seiten auf uns einprasselt, gewinnt oft Oberhand. Das Dumme daran: Diese Angst lähmt, sie ist nicht produktiv. Ich gebe zu, ich tapse oft selbst in die Falle der „unendlichen Möglichkeiten“: Die Kinder sind im Bett, ein paar freie Stunden liegen vor mir und wollen gefüllt werden – womit? Mein Kopf flirrt: Soll ich lesen, selbst etwas schreiben, soll ich einen guten Film anschauen oder einfach nur mal wieder ganz bewusst Musik hören? Und da war doch noch die alte Freundin, die ich schon seit Monaten endlich mal wieder anrufen wollte. Oft enden solche Abende wenig produktiv mit Buch neben mir, Handy auf dem Schoß und Radio an. Von allem ein bisschen, aber nichts so richtig. Wenn ich nach solch einem Abend ins Bett falle, bin ich überdreht und (immerhin!) ein bisschen stolz, denn ich habe mit der alten Freundin zwar nicht gesprochen, aber immerhin mal wieder gechattet, dabei mit einem Ohr Musik gehört und noch ein paar Seiten halbherzig in einem Buch geschmökert. Was ich am Ende eines solchen Tages nicht bin, ist entspannt. Dieses Konzept ist also durchaus überarbeitungswürdig und wenig nachahmenswert.
Ein ganz anderer Mensch ist der Typ. Er steht eines Tages plötzlich vor der Haustür der Studentin Mia, und sie hat erst mal keine Ahnung mehr, wer er ist. Als er sie auf Italienisch anspricht, dämmert es ihr allmählich, und nach und nach kann sie die Puzzleteile zusammensetzen. Er ist ein flüchtiger Bekannter namens Matteo, den sie aus ihrem Auslandsaufenthalt in Venedig kennt. Viel hatte sie dort nicht mit ihm zu tun gehabt, aber auch ihm hatte sie offensichtlich einen ihrer unzähligen Zettel in die Hand gedrückt, auf die sie ihre Adresse in Köln geschrieben hatte, verbunden mit der Einladung, man möge sie dringend dort mal besuchen, Köln sei schöner als man vielleicht erwarte. Doch keiner der vermeintlich guten Bekannten aus Italien ist gekommen, sondern dieser ruhige, ernsthafte Kerl, an den sie sich nur noch schemenhaft erinnern kann. Wie peinlich ihr das ist!
Dieser „Knall“, mit dem Matteo plötzlich in Mias Leben auftaucht, ist das einzig Laute an ihm und an dem Roman.
Drei Freundinnen wohnen zusammen in einer WG, Mia, Xenia und Lisa. Um Komplikationen vorzubeugen, und weil es bei ihrem derzeitigen Lebensstil auch kein Problem ist, haben die drei vereinbart, keine männlichen Übernachtungsgäste zuzulassen. Mia studiert Kunstgeschichte, Xenia führt das Café im Haus gegenüber und Lisa ist Buchhändlerin.
Mia muss nun diese Vereinbarung als Erste brechen, schließlich ist dieser unangekündigte Besuch ihre Sache, und sie kann den netten Italiener ja nicht einfach vor die Tür setzen.
Ihre Freundin Xenia sieht von ihrem Café aus den Typen vor der Haustür warten, bevor sie ihn kennenlernt. Irgendetwas an ihm lässt sie bereits da aufmerksam werden. Interessiert beobachtet sie ihn:
Was ist nur mit ihm? Warum benutzt er kein Smartphone und auch kein Handy? Er steht einfach nur da und blickt die Straße entlang. In regelmäßigen Abständen schaut sie hin, einmal hält er einen kleinen Block in der Hand und schreibt etwas auf oder skizziert etwas, so sieht es jedenfalls aus. Schließlich setzt er sich auf die Stufen vor der Haustür und säubert mit einem Papiertaschentuch seine Turnschuhe. Er tut das so langsam und so gewissenhaft wie ein Schuhputzer, ja, er widmet sich den Schuhen so, als wollte er sie fit machen für einen großen Auftritt.
Matteo fokussiert sich. Er tut nicht mehrere Dinge auf einmal, er macht eine Sache, macht sie bedächtig, dafür aber ordentlich, gründlich. Er ist der Antityp unserer Zeit. Er lässt sich nicht vom hektischen Wahnsinn unserer Epoche drangsalieren, er macht in Ruhe sein Ding.
Matteo bringt durch seine bloße Anwesenheit das Gleichgewicht der WG, aber vor allem auch das innere Gleichgewicht einer jeden WG-Mitbewohnerin durcheinander. Seine in sich ruhende Art, sein Minimalismus gepaart mit seinem natürlichen Charme und seiner Freundlichkeit hinterlassen Spuren in den Herzen aller drei Frauen. Auch Lisa, die von Anfang an am abweisendsten von allen ist, kann sich seiner besonderen Art, seiner Intensität, nicht auf Dauer entziehen. Was er da „anrichtet“, ist ihm in seiner ihm angeborenen Bescheidenheit nicht bewusst.
Der junge Venezianer ist anspruchslos, er schläft auf einer Matratze auf dem Boden in Mias Zimmer. Er putzt die Küche jeden Morgen blitzblank, um keinem zur Last zu fallen. Aufmerksam ist Matteo, empathisch und anpackend. Er bemerkt, wie andere sich fühlen, sieht, wo und wie er helfen und unterstützen kann – und tut dies! Innerhalb kürzester Zeit bringt er Dinge ins Rollen bei den drei Freundinnen, gibt Impulse, regt zu Veränderungen an. Tagsüber, während Xenia, Lisa und Mia ihren jeweiligen Tagesaufgaben nachgehen, vertieft er sich in die Studie des Kölner Doms.
Doch auch hierbei geht er ganz anders vor, als man vielleicht erwarten würde in der heutigen Zeit. Vorab rasch im Internet eine 360°-Innenansicht der Kirche bewundern oder eine Touristenführung buchen? Fehlanzeige! Matteo ist Restaurator, er interessiert sich für die Details – sowohl im Leben der Menschen um ihn herum als auch bei diesem riesigen Gebäude. Und er beginnt, charakteristisch für ihn, mit seinem Dom-Studium an der Fassade, nicht im Innern. Er nähert sich dem Objekt auf leise, ruhige Weise. Schält es wie eine Zwiebel.
Und diese Ruhe spiegelt sich auch in Hanns-Josef Ortheils Sprache wider. Auch er ist kein Mann der lauten Töne, seine Romane sind geschrieben in dieser leisen, ruhigen, manchmal fast unwirklich erscheinenden Sprache, die so typisch für Hanns-Josef Ortheil ist. Seine Hauptpersonen sind keine vorlauten Blender, sie sind sanft. „Der Typ ist da“ ist eine Fortführung dieser Grundidee. Als lege jemand einen Filter über die grelle, laute, brutale Welt. Die Dialoge Ortheils klingen oft so fehlerfrei und schön wie Kunstwerke. Das mag dem Roman eine gewisse Realitätsferne verleihen, denn kaum einer spricht so behutsam im wirklichen Leben. Es ist aber die Frage, ob ein Buch wie dieses sich daran messen möchte, realitätsnah zu klingen. Oder ob es nicht viel mehr Ortheils großes Ziel ist, mit seinem ganz eigenen, charakteristischen Schreibstil den Ton und das Tempo des Geschehens wiederzugeben. Ortheils Protagonisten schreien selten, sie „sagen“ immer nur, manchmal flüstern sie auch. Es mag kleinlich wirken, darauf zu achten, doch es macht den eigenartigen Zauber aus, den der Roman mit seiner kleinen Geschichte versprüht.
Möchte man an diesem leichten, gut lesbaren Sommerroman dennoch ein wenig kritteln – bitteschön, hier ist eine Anregung: Es geht um die Zeitschiene, auf der sich das Ganze abspielt. Auf Seite 90 des Romans fallen folgende Sätze:
– Was ist denn bloß los mit Dir?, fragt Mia. Seit Matteo hier ist, bist Du unausstehlich.
– Vielen Dank! Ich finde, dass Du Dich auch stark verändert hast. Ihr beide habt Euch verändert, aber Ihr merkt es nicht mal. Ihr könnt ja schon von nichts anderem mehr reden. Matteo hier, Matteo dort, der hilfsbereite, edle, wunderbare Matteo. Dieses Gerede ist nicht mehr normal.
Man würde anhand der allein für sich stehenden Passage denken, Matteo weile bereits seit einigen Wochen in der Frauen-WG – doch weit gefehlt! Dies ist Tag 1, immerhin abends, seit Matteos Ankunft am Vorabend. Dieses intensive Erleben jeder Stunde, wohl sogar jeder Minute, scheint bei den Romanfiguren dazu zu führen, dass sie das Gefühl für Zeit und Raum verlieren. Das mag zur Handlung passen, führt aber dazu, dass selbst ein Herrn Ortheil stark zugetaner Leser verwundert den Kopf schüttelt. Derart frappierende Veränderungen der Charaktereigenschaften wirken in solch kurzen Zeiträumen nicht überzeugend. Man wünschte sich – nur für diesen Aspekt des Romans! – etwas mehr Realitätsnähe, um glaubhafter zu wirken.
Das aber ist Jammern auf sehr hohem Niveau. Alles in allem ist der druckfrische Roman ein Ortheil, wie ihn seine Fans mögen werden. Ruhiges Fahrwasser, anmutige Hauptpersonen, kleine Verwirrungen mit einer Auflösung, wie man … aber nun gut, lesen Sie selbst.
Buchdetails
- Aktuelle Ausgabe: 17. August 2017
- Verlag: Verlag Kiepenheuer & Witsch
- ISBN: 978-3-462-05014-1
- Gebunden: 320 Seiten
*seufz* ja, die „Falle der unednlichen Möglichkeiten“ sitze auch am Rechner und laufe eben gerade rein…
Mehr ZEN , danke für die wunderschöne Erinnerung 😉
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