Deutschland im Jahr 2064

Germany 2064“A little rebellion now and then is a good thing.”
Thomas Jefferson in einem Brief an James Madison, 30. Januar 1787

Wieviel Kontrolle braucht ein Staat? Wieviel Freiheit ist möglich? Und welche Auswirkungen hat diese Freiheit?

Thursdaynext und Bri gingen diesen Fragen gemeinsam mit Martin Walkers Germany 2064 durchaus kritisch auf den Grund. Martin Walker, der mit seinen Bruno Courrèges Romanen nicht nur Krimis schreibt, sondern die französische Gesellschaft genau unter die Lupe nimmt und es dabei auch noch bravourös beherrscht, einerseits geschichtliche Hintergründe kritisch auszuleuchten und deren Auswirkungen bis in die Gegenwart herauszuarbeiten und andererseits ein Stück heile Welt für Frankreich Romantiker zu erschaffen, hat sich an einen SciFi oder Zukunftsthriller gewagt. Der Ort der Handlung liegt dabei nicht in Frankreich, sondern in Deutschland.

Kann er das? Oui, il sais!
Anders als gewohnt ist der warme, liebevolle Bruno-Unterton hier nicht zu finden. Wer diesen sucht, liest hier absolut falsch. Aber auch hier ist der Plot straight angelegt. Im Mittelpunkt stehen politische und finanzielle Verstrickungen, Macht und Geld. Auch  in Germany 2064 ist ein Krimianteil zu finden, eher nebensächlich – was man als Parallele zu den Bruno-Krimis sehen kann, liebevoll verspielte Landschaftsbeschreibungen, detailgetreu ausgeleuchtete Nebendarsteller und das französische savoir vivre sucht man hier jedoch vergeblich. Walkers Deutschland besteht aus Arbeitsbienen. Menschlichen und Nichtmenschlichen.
Breitgefächertes geschichtliches Allgemeinwissen ist bei einem Historiker, wie es Walker ist, vorauszusetzen. Dies flicht er in Germany 2064 elegant in die Handlung ein, greift dabei Stanislav Lem und Isaac Asimov auf und stellt die drängenden Fragen nach Ethik und Moral ohne zu langweilen oder den berühmten Zeigefinger zu heben.

Eingängig liest sich das Zukunftsszenario, das er für Deutschland entworfen hat, besonders wenn man selbst Teil der gutbürgerlichen, gebildeten Mittelschicht ist. Aus dieser Perspektive ist der Roman geschrieben, darin ist er angesiedelt und hier ist auch der einzige Vorwurf zu finden, dem man Germany 2064 machen könnte, wenn man wollte.

Thursdaynext will es nicht zwingend, denn sonst müsste natürlich die ewige Frage gestellt werden, für wen dieser Roman geschrieben wurde. Für die Mittel- und Oberschicht. Die lesenden Bildungsbürger, die hier nicht mit den Problemen der Armen und Ärmsten der Welt behelligt werden, sondern Luxusfragen gestellt bekommen, wie zum Beispiel wie mit denkenden und fühlenden Robotern umgegangen werden soll und welches Gefahrenpotential von diesen ausgeht.

Aus dieser privilegierten Sicht dennoch sehr interessant ist die europäische, deutsche Lösung des Flüchtlingsproblem (insbesondere weil diese sich stark annähert an die Maßnahmen die mittlerweile abzusehen sind und das obwohl der Roman vor der großen Fluchtwelle entstand, die allerdings wiederum seit Jahren in etlichen SciFi Publikationen schon längst vorhergesagt wird und jedem klar denkenden Menschen bewusst gewesen sein muss.).

Welche Staaten global noch eine führende Rolle spielen und – um es vorweg zu nehmen – der Kapitalismus hat sich durchgesetzt, wenn auch nicht völlig in allen Köpfen und Teilen Deutschlands.

Und an dieser Stelle setzt Bri mit ihrer Kritik ein: Dass der Kapitalismus sich in Deutschland durchgesetzt hat, wäre noch zu verkraften, doch dass – zumindest war das für sie nicht ersichtlich – keine große Kritik an dieser absolut ungerechten Wirtschaftsform geübt wird, das hat für das Leseerlebnis doch geschmälert. Ebenso werden die bestehenden Bündnisse und Handelsbeziehungen nicht hinterfragt, Russland erscheint außen vor zu stehen und eine gemeinschaftliche Lösung globaler Probleme in ferner Sicht. Ein wenig mehr Utopie wäre hier aus Bris Sicht wünschenswert gewesen – will der Roman doch laut Nachwort von Walker selbst – zeigen, wie sich Menschen mit Macht und angeblich auch visionärem Denken unser aller Zukunft vorstellen. Nicht wirklich revolutionär war das, was sie hier las. Vieles was in den unangepassten Teilen von Walkers Deutschland im Jahr 2064 gedacht und umgesetzt wird, gibt es heute bereits. Meist geht es um biologisch-dynamischen Anbau von Lebensmitteln (im übrigen schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein großes Thema und wie vieles andere durch die Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges zunichte gemacht), Selbstversorgergemeinschaften und Rückzug aus dem kapitalistischen Konsum. Scifi war das für Bri also nicht.

Thursdaynexts Sicht der Dinge dazu:
Walker widmet sich, ist er doch nicht nur Historiker und Schriftsteller, sondern auch Mitglied des Think Tanks Global Business Policy Council auch dem Bildungssystem und etlichen weiteren Bereichen der Gesellschaft, des Staates. Sicherheit ist ein ganz großes Thema und eben auch die Frage, wieviel Sicherheit ein Staat seinen Bürgern bieten muss, kann und wieviel davon erträglich ist. Diese hat er spannend und faszinierend umgesetzt. Die Weiterentwicklung Deutschlands als Staat ist authentisch, realistisch, wenn man auch bedauern mag, dass er die vorherrschende Staatsideologie des Kapitalismus und Wachstums gerade so fortführt. Sicher, es gibt Menschen die aussteigen wollen aus diesem System, die die Schwäche erkennen und darin liegt für uns auch die Schwäche dieser Zukunftsvision.

Mag sein, Walker ist zutiefst überzeugt vom Kapitalismus, wofür etliches spricht, aber dadurch beschränkt er diese zukünftige Entwicklung sehr stark. Auf den Klimawandel geht er nur in undeutlichen Sequenzen ein, ein detailliertes globales Bild zeichnet er nicht. Zudem, bevor sich der Homo sapiens Gedanken um die Gefühle denkender Maschinen macht, sollte doch bitteschön erst einmal geklärt werden, wie mit Primaten, unseren nächsten Verwandten, den Menschenaffen umgegangen werden sollte. Orang – Utans, Gorillas stehen kurz vor dem der Ressourcengier geschuldeten Genozid. So interessant diese Gedanken zu belebten Maschinen, dem Umgang mit ihnen und ihren potentiellen Rechten auch sein mögen (Sex zwischen Menschen und Maschinen – diese Vorstellung hat was ganz schön fieses) – hier wird, wie bereits erwähnt über Luxusprobleme gesprochen.

Davon abgesehen las sich Germany 2064 flugs und sehr angenehm weg, auch wenn wir mit dem Protagonisten nie wirklich warm wurden. Walkers Genrewechsel  – tatsächlich hat er ja wieder einen Kriminalroman geschrieben auch wenn dieser in einer neoliberalen Zukunft eher konservativer Werte anzusiedeln ist, ist gelungen. Gute Lektüre für kalte Winterabende am warmen Kaminfeuer. Dazu reiche man gebratene Maroni, Punsch oder Glühwein.

Sollten sich Mitglieder des wachsenden Prekariats oder gar bildungshungrige Unterschichtler unter die Leserschaft verirren bitte beachten. Den Grill unbedingt nur bei guter Belüftung im Freien betätigen, Marshmallows sind kostengünstiger als Maronen und Zucker in den Fuselrotwein mit Gewürzbeutel tuts auch. Wir wünschen warme Decken …

Buchdetails

  • Aktuelle Ausgabe : 26. August 2015
  • Verlag : Diogenes
  • ISBN: 978-3-257-06939-6
  • Leinen, gebunden: 432 Seiten

 

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