Klassische Coming-of-Age Geschichten gibt es – zumindest ist das mein Eindruck – in den Verlagsprogrammen des ersten Halbjahres 2021 sehr viele. Ein paar davon habe ich bereits gelesen, beziehungsweise bin noch dabei. Da wäre zum Beispiel Benedict Wells mit Hard Land zu nennen, ein Roman, der mich als Kind der 80er-Jahre mit der dazu gehörigen (mainstream-)Vorliebe für (Glam-)Rock ab der zweiten Hälfte der Geschichte auf jeden Fall einfangen konnte. Dann ist da noch Ewald Arenz Der große Sommer, der aufgund seiner wie immer sprachlich auffallend schönen Gestaltung und der Atmosphäre, die er damit zu schaffen imstande ist, mein Beuteschema komplett abbildet (wer hier ab und an mitliest, weiß, dass ich großes Arenz-Fangirl der ersten Stunde bin). Der große Sommer steht mittlerweile – und das zu Recht – ebenso wie Hard Land – auf der Spiegel – Bestsellerliste. Nur vom Weltraum aus ist die Erde blau, das mittlerweile mit dem Ulla-Hahn-Autorenpreis ausgezeichnete Debüt des Journalisten Björn Stephan, das, zu meiner Verwunderung, beim ZDF als „Kinderbuchtipp“ genannt wird, wartet noch auf dem Stapel ungelesener Kostbarkeiten. Darauf bin ich sehr gespannt. Und dann gibt es da noch Krach, den dritten Roman von Tijan Sila, der alles genau beachtet, was man beachten sollte, um einen richtig guten Coming-of-Age Roman zu schreiben und gleichzeitig so vieles anders macht, dass er einen damit einfach umhaut. Ich könnte jetzt einfach sagen, wenn ihr einen Roman dieses Genres lesen wollt, nehmt unbedingt Krach, dann noch auf die unglaubliche, großartige, fundiert am Text arbeitende und vom Autor selbst mit den Worten „hier hat jemand den Roman vestanden“ kommentierte Rezension von Katharina Herrmann auf Kulturgeschwätz verweisen und mich einfach zurückhalten, weil in dem genannten Beitrag alles drin steckt, was zu diesem grandiosen Buch zu sagen ist (sorry für die vielen gesteigerten Adjektive, aber ich kann einfach nicht anders). Aber ihr kennt mich, ich muss halt doch noch meinen Senf dazugeben – und da ich eben kein Kind der 90er und der Punk-Kultur bin, ist meine Sichtweise auf die Geschichte, die Sila erzählt, vielleicht eine andere – oder auch nicht …
Punk – das sind / waren für mich immer die jungen Menschen, die vor dem KOMM in Nürnberg saßen, ihre durchaus bewundernswerten Frisuren mit allerlei Tricks festigten, Passanten im Vorbeigehen anschorrten (nach was auch immer) und halt einfach irgendwie gegen Konformitäten angingen. Zugehörig fühlte ich mich dieser Subkutlur in keiner Weise, doch gewisse Einstellungen (Antifaschismus, Ablehnung des propagierten Konsumdenkens etc.) waren auch mir eigen, auch wenn ich diese Werte nicht so plakativ vor mir hertrug und im Grunde doch recht angepasst daherkam. So richtig verstanden hatte ich Punk allerdings nie und die Musik, nun ja, war einfach auch nicht unbedingt meine, sieht man mal von Bands wie den „Toten Hosen“ oder „Die Ärzte“ ab, die allerdings ja schon recht bald eine breite Fangemeinde aufwiesen und deshalb schon eher zum „Mainstream“ zählten. Dennoch wollte ich wissen, was einen Punkroman, der in den 90er-Jahren, also den sogenannten Baseballschläger-Jahren, angesiedelt, die Geschichte eines jungen Mannes zum Inhalt hat, ausmacht. Denn irgendwie erhoffte ich mir, dass diese Coming-of-Age Geschichte anders sein würde, als jene, die ich bisher gelesen hatte. Ich wrude nicht enttäuscht, soviel schon an dieser Stelle.
Gansi – so der Spitzname des jungen Mannes, der in „Krach im Zentrum steht – steht kurz vor dem Abitur, lebt in einer Kleinstadt in der Pfalz und liebt das Spielen in seiner Punkband. „Pur Jus“ heißt die Band – und was sie machen, machen sie pur und hundertprozentig. Außer Gansi, dessen familiäre Wurzeln in Bosnien liegen und der deshalb auch von Freunden außerhalb der Punkszene und seiner Familie Budo oder Sabahudin (sein tatsächlicher Name) genannt wird, gehören noch Beppo, Ursel und Pirmin zur Band. Sie spielen dort, wo sie Auftritte bekommen. Das kann in einem JuZ in Freiburg sein, wo alles ordentlich und sauber zugeht, genauso gut wie in einem besetzten Haus irgendwo im nirgendwo im Osten der BRD sein, wo die Schlafgelegenheiten eher JuHe – Niveau besitzen. Das Leben ist ein Abenteuer, so wie es sich anfühlen sollte, wenn man jung ist und Herausforderungen wie eine Prügelei mit Faschos werden angenommen. Zumindest von den jungen Männern.
Ich, die ich in meiner Jugend nicht wirklich rebelliert habe, weil ich es wohl nicht musste – alles was ich wirklich tun wollte, konnte ich kaum gehindert durchziehen, weil meine Wünsche eher regelkonform aussahen und über das Fahren einer knackigen Honda NX 650, oder auch Dominator genannt, kaum hinausging, (und da war ich auch schon Anfang 20) bewundere ich bis heute Menschen, die sich soweit aus der Gesellschaft hinaustrauen. Dass es sich hier nicht immer nur um ein Abgrenzen von der Gesellschaft handelt, sondern auch um eine Eingliederung in eine Gemeinschaft Gleichgesinnter, das habe ich durch Krach nun verstanden.
Denn die Figuren, die Sila zeichnet, sind so vielschichtig, wie Menschen es nun einmal sind und leben auch durch ihre Widersprüchlichkeiten. Keine der Figuren ist schwarz oder weiß, alle haben ihre Schattierungen, Zweifel, Schwächen und Stärken. Der Ton, den Sila seinen Hauptprotagonisten snschlagen lässt, ist direkt, unverstellt und glaubwürdig. Die Zweifel, die einen jungen Menschen quälen (können), werden unprätentiös gezeigt. Was die Geschlechterrollen angeht kann ich, auch aus der Sicht einer jungen Frau, die sich der Punk-Kultur nie zugehörig gefühlt hat, all das, was Katharina Herrmann in ihrer Besprechung schreibt nur bestätigen. Und das ist einer der Punkte, die diesen Roman so außergewöhnlich, wie gut machen: Obwohl ich mich nicht mit der Zielgruppe identifiziere, hat mich die Geschichte vollends überzeugt und eingenommen und gewisse Strukturen sind auch mir nur zu bekannt.
Die Themen, die Sila so nebenbei und doch nie oberflächlich anschneidet, haben mit Identitäten, Entwurzelung, Ankommen, Zugehörigkeit und natürlich Anti-Faschismus ebensosehr zu tun, wie mit dem Erwachsenwerden oder wie man diesen weiteren Schritt in die Selbständigkeit nennen mag. Die Kunst dabei, nie trocken-moralisch zu sein, sondern witzig und leicht, beherrscht Sila perfekt. Er macht aus vielen schwierigen Themen eine wunderbar unterhaltsame Geschichte, ohne dadurch die Tiefe preiszugeben. Nie künstlich, aber immer kunstvoll. Ich habe alles, was ich gelesen habe, geglaubt und ich habe es gesehen. Perfekt für eine Verfilmung, ohne darauf hingeschrieben zu sein.
Ein Punkt, der mir zudem besonders aufgefallen ist und extrem gut gefällt, ist die Tatsache, dass das einschneidende Ereignis, das ein Coming-of-Age Roman nun mal braucht, in Krach kein lebensbedrohliches, aber dennoch ein lebensveränderndes ist. Es ist hart, es tut weh und es hat nichts mit verschmähter Liebe zu tun, sondern mit dem Lauf des Lebens, mit Entwikclung. Das ist erfrischend und anders, sprengt die Form. Ein wahrer Genuß.
„Pur Jus“ – 100% Saft – das ist nicht nur ein klasse Bandname, sondern scheint mir auch das richtige Etikett für diesen umwerfenden, deutschsprachigen Roman zu sein. Bitte bitte viel mehr davon. Und bitte, lest diesen Roman, er hat es mindestens genau so sehr verdient, wie Hard Land oder Der große Sommer auf der Spiegel-Bestsellerliste zu stehen, wenn nicht sogar ein bisschen mehr, weil er sich mehr traut.
Krach von Tijan Sila ist als Hardcover im Mai 2021 im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen. Für mehr Infos zum Buch per Doppelklick auf das im Beitrag abgebildete Cover oder über die Verlagsseite.
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Wie schön, das freut mich extrem. Ja, ich finde auch, dieses gemeinsame, aber andere Draufgucken so wunderbar. LG, Bri
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Wie schön, dass du endlich dazugekommen bist, ihn zu schreiben – ich habe deinen Text supergern gelesen, das ist total schön, wenn man dann nochmal mit anderen Augen auf das Buch schauen kann.
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Ja cool, da bin ich gespannt, wie es Dir gefallen wird. LG
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Danke für diese Rezension. Bringt mich dazu Sila wieder aus dem Regal zu holen.
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