Reigen Reloaded nimmt sich den Reigen, das Skandal-Theaterstück zur Jahrhundertwende von Arthur Schnitzler zum Vorbild und transferiert den Stoff in die heutige Zeit. Man kann das Werk auch als Remix des historischen Dramas betrachten. Dabei stellen sich natürlich einige Wertungsurteile: Ist Reigen Reloaded besser als das Original? Diese Frage kann ich eindeutig mit Ja beantworten, die Antwort wirft aber gleich eine Anschlussfrage auf: Ist Reigen Reloaded deshalb auch wirklich gut? Puh, hier muss ich abwehren, ich finde es nicht wirklich gut.
Besser als Schnitzlers Original zu sein, ist nämlich gar keine Kunst. Der literarisch anspruchslose Reigen, der abseits des Skandals, den er bei seinem Erscheinen 1900 und bei der Uraufführung des Theaterstücks 1920 verursacht hat, handwerklich nur platte Dialoge und vielleicht ein bisschen ein innovatives Setting der Figurenabfolge zu bieten hat, ist eines der schlechtesten Werke dieses von mir sonst so vielgeschätzten Autors. Mittlerweile kann ich das auch beurteilen, denn ich habe mich in den letzten vier Jahren ausführlich durch das Leben und lesetechnisch ziemlich nachhaltig durch einen Großteil des Oeuvres des grandiosen und berühmten österreichischen Schriftstellers gefräst. Zudem tue ich Schnitzler auch gar nicht unrecht. Aus einer seiner Biografien weiß ich, dass er den Reigen ursprünglich gar nicht veröffentlichen wollte, weil er selbst ihn für literarisch zu anspruchslos hielt.
Nun musste ich natürlich noch überlegen, ob die Variation, beziehungsweise der moderne Remix zwangsläufig an der Unzulänglichkeit des Originals scheitern musste, weil im gesteckten Rahmen nichts Besseres entstehen konnte, oder ob auch hier Defizite zu Tage treten, die auf eigenen Versäumnissen basieren.
Aber zuerst einmal zu den Basics. Worum geht es in beiden Werken? Ein innovativer Punkt des Dramas ist die Szenenanordnung. In zehn Episoden wird wie ein Staffelholz der Liebelei oder wie eine Geschlechtskrankheit der sexuelle Akt von einem zum anderen weitergegeben – quer durch die Gesellschaftsschichten von Frau zu Mann und von Mann zu Frau. Das klingt nach einem seriellen Gang Bang in dem das Token (Ausdruck aus der IT) in einem Ring weitergegeben wird. Im Original beginnt das Stück mit einer Prostituierten, die auf einen Soldaten trifft, der wiederum eine Affäre mit dem Hausmädchen beginnt … sukzessive wird von der Unterschicht der sexuelle Akt bis in bürgerliche und dann höchste Kreise weitergegeben, wobei natürlich auch viele untreue verheiratete Ehegatten in dem Szenario mitspielen. Am Ende des Schnitzlerstücks sind wir wieder bei der Dirne der ersten Szene angekommen, die mit einem Grafen Sex hat. Hier schließt Schnitzer den Ring und den Reigen quer durch alle Gesellschaftsschichten:
Reigen Reloaded weicht hier schon einmal vom Original ab, denn die erste Szene beginnt mit einem 14-jährigen Mädchen und endet mit einer Prostituierten, in der ich das Mädchen in der Ausgangsszene nicht erkennen kann. Auch der ursprünglich strukturelle Aufbau durch heutige Klassen und Schichten, um wieder beim Ausgangspunkt ganz unten anzukommen, ist nicht erkennbar, denn die Herausgeberin Barbara Rieger hat sich eines recht innovativen, aber vielleicht nicht klugen Konzepts bedient, die einzelnen Szenen von unterschiedlichsten Autor*Innen, wie Gertraud Klemm, Gustav Ernst, Michael Stavariç, Angela Lehner …, schreiben zu lassen, wobei jeder einen Monat dafür Zeit hatte und nur die vorherige Anschlussgeschichte kannte. So ein Plan geht eben dann sehr massiv gegen einen einheitlichen Aufbau im Sinne von Schnitzler, kann jedoch schon sehr unterschiedliche, möglicherweise in ihrer Gesamtheit auch innovative Geschichten in Sprache und Erzählkunst verursachen, oder eben auch Chaos. Hier ist das neue Konzept für mich gar nicht aufgegangen.
Bezüglich Sprachfabulierkunst und Dialoge ist Reigen Reloaded natürlich um Klassen besser als das Original, denn alle beteiligten Autorinnen können natürlich sehr gut schreiben, das merkt man an jeder Zeile.
Nun geht es eigentlich noch um den letzten Punkt, warum Schnitzlers Reigen trotz seiner Defizite so erfolgreich war. Das lag am Skandal, den er verursacht hat. Ich glaube ja, der eigentliche Eklat war nicht das Stück an sich, denn es wurde ohnehin schamhaft abgeblendet, wenn Sex ins Spiel kam, sondern dass sich die österreichischen Persönlichkeiten der bürgerlichen gehobenen Gesellschaft teilweise eindeutig in den Dialogen wiedererkannten. Irgendwie hat Schnitzler massiv selbst auch im Reigen mitgespielt. Ein paar Figuren können eindeutig mit Namen der feinen Gesellschaft belegt werden, wobei bei einzelnen weiblichen Protagonistinnen sogar zwei bis drei Geliebte von Schnitzler punktgenau abgebildet sein könnten.
Heutzutage lockt der damals so kontroverse Stoff keinen Leser mehr, geschweige denn, dass sich irgendwer darüber noch Gedanken macht. In jedem Medium sind wir täglich mit mehr Sex und Skandalen konfrontiert. Schnitzlers Theaterstück ist eben damals Zeitgeist gewesen, und geht so wie viele zeitgeistige Werke den üblichen Weg, dass sie sehr schlecht altern.
Will man nun heutzutage in Form des Remixes nach dem historischen Vorbild innerhalb der Szenen noch ein paar neue Beziehungsgeschichten veröffentlichen, die vielleicht ein bisschen kontrovers sind, oder zumindest neue Aspekte von Sex und Beziehungen anbieten, ohne dass der Leserschaft gleich das Gähnen entschlüpft, so kann man sich nicht ausschließlich auf klassische, sexuell recht gesellschaftskonforme kurze Mann-Frau-Szenen, in denen einerseits ob der Kürze in der Tiefe zu wenig gesagt werden kann und andererseits ja schon auf der sexuellen Ebene literarisch fast alles gesagt wurde, beschränken. Hier wurde wirklich ordentlich viel Potenzial vergeigt, denn wenn man das Vorbild des sexuellen Aufdeckers Schnitzler in die heutige Zeit transferiert, muss unbedingt Einiges abseits der von einer Majorität praktizierten Arten von Sex und Beziehungen thematisiert werden. Ich bin wirklich verblüfft, dass hier die auf der Hand liegende, einmalige Chance verpasst wurde, moderne, weniger betrachtete Spielarten von Sex einzubauen. Es gab keine einzige homosexuelle Szene, weder zwischen zwei Männern noch zwischen zwei Frauen, keinen einzigen Trans-Charakter, kein Bondage, keine Dominas und so weiter und so fort. Ich frage mich wirklich, welche Gesellschaft hier sexuell abgebildet werden sollte, die heutige ist es definitiv auf keinen Fall, eher jene von Wien in den 1970er Jahren. Und da sind wir schon beim gesteckten Rahmen, den der Original-Reigen vorgab und der definitiv von dieser Neuauflage überhaupt nicht ausgeschöpft wurde, obwohl diese Möglichkeit ja schon bei der Projektidee ins Auge springen musste. Dies ist für mich das größte und ärgerlichste Defizit dieses Werkes neben der nicht konsistenten Szenenanordnung.
Fazit: Schade um die wirklich gute und innovative Idee eines Reigen Reloaded. Für mich nicht zeitgemäß und grottenschlecht auch von der heutigen sexuellen Gesellschaftsbetrachtung her umgesetzt. Was bleibt, ist ein sprachlich ganz gut gewebter Szenenfleckerlteppich der Mittelmäßigkeit, für den ich mit viel Bedauern, weil das Werk so viel Potenzial hatte und ja auch alle Autor*innen schreiben können, trotzdem keine Leseempfehlung abgeben kann.
Reigen Reloaded von Barbara Rieger als Herausgeberin ist 2021 im Verlag Kremayr und Scheriau als Hardcover erschienen. Nähere Infos zum Buch über einen Klick auf das Cover im Beitrag oder auf der Verlagsseite.