Das Leben, nicht der Tod ist das große Mysterium

Das letzte Testament der Heiligen Schrift von James FreySo manches Buch polarisiert die Leser und verhindert einen gemeinsamen Konsens. So auch dieses Werk von James Frey, welches bei Rallus und Thursdaynext gemischte Gefühle zurückließ. Deswegen mussten wir den Plan einer gemeinsamen Rezension aufgeben und haben unsere Gedanken parallel aufgeschrieben: erst Rallus, dann Thursdaynext.

PRO: Rallus

Am Anfang war das Wort. Mit dem Wort kam die Angst und gleich danach der Glaube. Dass dies die Religionen nun jahrtausendelang ausnutzen, ist bekannt.

„Glaube ist die Ausrede des Narren. Glaube ist das, was man dazu benutzt, um andere im Namen Gottes zu unterdrücken, um zu leugnen, zu rechtfertigen und zu richten. Glaube ist das, was in der Geschichte dazu benutzt wurde, mehr Übel anzurichten als alles andere. […], und es wird mit der Welt tatsächlich zu Ende gehen, aufgrund des Glaubens.“

Im letzten Testament der heiligen Schrift schreibt Autor James Frey über dies Bekannte. Es ist gut, und immer wieder wichtig, dass er oder jemand das tut, es ist auch stilistisch gut, wie er davon erzählt, auch wenn er des öfteren auf einem Thema herumreitet.

Was geschieht, als der langerwartete Messias namens Ben Zion Avrohom sich auf der Welt blicken lässt? Dabei überfällt ihn Gott erst, als er nach einem grauenhaften unerklärlichem Unfall und daraus resultierenden epiliptisch erscheinenden Anfällen Zugang zu höherem unerklärlichem Wissen erhält. Dieses Wunder wird medizinisch erklärt, überhaupt hat die Medizin viele solcher Persönlichkeitsveränderungen, nach traumatischen Erlebnissen, in der Geschichte erlebt. Ben wird mit 14 von seiner Familie verstoßen, er hat bei seiner Geburt Anzeichen des Messias (wird beschnitten geboren), auch erleben ihn andere beim Vorlesen der heiligen Schrift als mit einer gewissen Macht beseelt. Doch sein Vater und sein Bruder sind misstrauisch, und so landet er auf der Strasse.

Seine Geschichte und sein Leben wird in verschiedenen Kapiteln von den ihn begleitenden Menschen erzählt. Diese an die Bibel angelehnten Kapitel werden aus verschiedenen Perspektiven der Menschen und auch verschiedenen Sprachstilen erzählt. Zusätzlich ist jede Perspektive von einem anderen Schriftsteller ins Deutsche übersetzt, was dem Kapitel noch einmal eine andere, eigene Note gibt. In der Ausführung ist dies wirklich sehr gut gelungen, die einzelnen Charaktere erscheinen viel schärfer und sind klar umrissen, nicht zuletzt dank ihrer ureigenen Sprache. Frey bringt dadurch lebendige Spannung in die Geschichte.

All diesen Menschen ist ein Grundwesenszug gemein, sie sehnen sich nach Liebe, Verständnis und Geborgenheit in dieser so kalt empfundenen Welt:

„… Ich wollte nicht loslassen. Ich wollte nicht, dass mich dieses Gefühl je wieder verlässt. Aber alle Dinge verlassen uns, alle Menschen alle Gefühle, egal, wie sehr wir sie halten wollen. Wir verlieren alles im Leben irgendwann. Ich verlor diesen Moment, als ich seine Hand losließ. …“

Ben zieht als Messias nicht durch die Straßen, nein, er bleibt im Untergrund und schließt sich den Gesetzlosen, den Outsidern der Gesellschaft an. Diese leben in Tunneln, von der Außenwelt haben sie genug:

„Die ganze Zeit ist er nur an einem Tag im Jahr rausgekommen. Er ist rausgekommen und er hat eine Zeitung gelesen und sich die Scheiße angesehen, die allgemein abging, und die war noch nie gut und wurde mit jedem verdammten Jahr schlimmer.“

Das Leid, das er und die Menschen erleben, in der Welt, ist der Hass und das Unverständnis:

“ Wenn er nicht wäre, was er ist (Moslem), und wenn ich nicht wäre, was ich bin (Christin), dann wären wir vielleicht Freunde. Aber wir sind, was wir sind, und die Menschen werden immer Hass empfinden. Und das ist unser Verhängnis.“

Die Religion gibt einem Halt und beschwört den Gehorsam für das Leben nach dem Tod, doch „Das Leben, nicht der Tod, ist das große Mysterium, mit dem man sich auseinandersetzen muss.“

Frey schildert eindringlich das System, die Klassen, der Ungleichheit, die widrigen Lebensumständen der Armen die Ben natürlich folgen und die er bewusst aufsucht. Wunder sind für ihn keine verdorrten Feigenbäume, sondern:

„Ich weiß, in der Bibel steht, ein Wunder ist, wenn ein verkackter Feigenbaum verdörrt oder so’n Scheiß, aber in meiner Welt, in der echten Scheißwelt, ist ein Wunder ein Röhrchen Crack, das in einer amerikanischen Sozialbausiedlung für länger als drei verschissene Minuten auf dem Gehweg rumliegt.“

Es steckt natürlich sehr viel Wahrheit und Weisheit und Wissen um die gesellschaftlichen Zustände in diesem Buch. Auch Liebe, die Suche nach einem besseren Leben, Religions-, Kirchenkritik,  Systemkritik, ist wichtig, aber hier übertreibt Frey ein wenig. Die Liebe, bzw. der freie Sex wird im Mittelteil des Buches überbetont, es macht sich eine leichte Übersättigung der immer wiederkehrenden Szenen breit.

Was bleibt, ist ein sehr emotionales Buch, das sich kritisch mit den Missständen auseinandersetzt, gerade das Festhalten an Traditionen und alten Büchern wird zu einem Hauptkritikpunkt.

„Die Bibel ist ein Buch. Bücher sind dazu da, Geschichten zu erzählen. Sie sind nicht dazu da, um Menschen das Recht zu nehmen, so zu leben wie sie wollen. Lebe so wie du dich fühlst und wie es für dich richtig ist, nicht so wie es in irgendeinem Buch geschrieben steht.“

Einziger Kritikpunkt an Frey ist, dass man sich fragt, für wen er das denn jetzt schreibt. Es gibt einen Begriff im Englischen, „Prayers for the believers“, der hier sehr gut passt. Alle die schon vorher so dachten, werden sich wiederfinden, alle anderen sind wohl schwer zu bekehren, zu extrem sind seine Schilderungen, Sexszenen und zu blasphemisch wird ein Gottesgläubiger dieses Buch empfinden. Hier fehlt ein wenig die innovative Kraft, beide Seiten zu verbinden, Frey bleibt im Ausdruck und Stil zu nah an der Bibel.

Für mich ein hochemotionales, brachiales Werk, das ich immer weiterempfehlen würde.

 

Contra: Thursdaynext

Im „letzten Testament der heiligen Schrift“ schreibt Autor James Frey über das eigentlich Offensichtliche.

Es ist gut, dass Fragen zum Sinn und Zweck der Religionen gestellt und teils, wenn auch sehr flach und emotional, beantwortet werden. Nicht gut und wenig gefällig ist sein Drang diese/seine Wahrheiten loszuwerden. Man hat das Gefühl, hier schreibt ein getriebener Betroffener, so emotional und langatmig und leider auch platt wird erzählt, worunter Textqualität und Lesegenuss stark leiden. Betroffenheitslektüre eben.

Nah dran an der Bibel ist Frey, verquickt sie in seinem Roman mit anderen Religionen, lässt folgerichtig Ben Zion als Jude geboren werden. Gibt ihm eine Familie zur Seite, die ihn teils liebt (Mutter, Schwester), aber zu schwach ist, ihn zu verteidigen gegen jene Familienmitglieder, die ihn ablehnen, ja hassen.

Die Bibel sollte den Lesern ein wenig geläufig sein, um diesen Roman zumindest stilistisch zu goutieren und Bezüge herzustellen. So wird über Ben Zions Geschichte und Leben in verschiedenen Kapiteln von Markus, Lukas, Maria Magdalena, Esther, Lukas Matthäus, Johannes, Adam, Judith und Ruth berichtet, welche mit ihrer Namensgebung wiederum an die Schriften des neuen Testaments angelehnt sind. In der deutschen Übersetzung gibt es noch das Schmankerl, dass jeder Charakter von einem anderen Übersetzer, unter anderem Juli Zeh, Harry Rowohlt, Sven Böttcher, Gerd Haffmans übersetzt und so sehr eigen geschildert wird.

Wunder gibt es auch im letzten Testament. Weshalb eigentlich? Um das Göttliche an Ben zu erläutern? So wird Bens Beziehung zu Gott beschrieben als Beziehung zum Universum. Der Gott Bens ist nicht manifest, er ist überall zu finden und gleichzeitig nicht da. Wir sind es, die ihn in uns finden müssen. Da braucht es keine Wunder, oder falls doch sichtbare, nachvollziehbare. Trotz dieser Kritik baut der Autor sie in die Geschichte wiederholt ein. Unlogisch und penetrant umgibt er Ben Zion, den neuen „Messias“, mit ihnen. Bedient sich des „Wasser zu Wein“ Gedöns, der Wundmale um das Leiden und die Qualen des Gottesspürers irgendwie zu illustrieren. Das ist so öde, da kann man gleich die vorhandenen religiösen Manifeste durchforsten. Irgendwelche wahren Worte finden sich in derlei Traktaten immer. Das Ende ist vorhersehbar, von Beginn an. Ben Zion, der messianische Unruhestifter, findet dasselbe Ende wie sein Alter Ego vor etwas mehr als zweitausend Jahren. Unruhe stiften ist Sinn und Zweck dieses Romans, wie er sich mir darstellte. Gelungen ist es dem Autor nicht. Nicht bei mir.

„So etwas wie Gottes Wort gibt es auf Erden nicht. Oder wenn doch, dann ist es nicht in Büchern zu finden. Wo ist es dann zu finden? In der Liebe, im Lachen von Kindern. In einem Geschenk. In einem Leben, das gerettet wird. In der Stille des Morgens. In der Tiefe der Nacht. Im Rauschen des Meeres, oder dem Geräusch eines Autos (hier stutzte die Leserin, aber beim Gedanken an Oldies mit mehr als acht Zylindern musste ich zustimmend nicken) Man kann es in allem finden, überall. Es ist die Substanz unserer Gefühle, der Menschen mit denen wir zusammenleben, der Dinge von denen wir wissen, dass sie existieren.“

Ben, selbst ein Gequälter, der ganz im „ZEN“ an nur dieses eine Leben glaubt, welches mit Lieben, Lachen, Sex, Spaß und der Suche nach Schönheit am besten zu verbringen ist. Yepp, da hat er recht, sehe ich auch so. Leider vermisse ich das Lachen im Roman. Tragisch, wahr und traurig, wie Frey die Welt realistisch und gefühlig schildert. Erreicht hat er mich damit nicht. Humor fehlt zur Gänze! Das meiner Ansicht nach Einzige, mit dem man dieses Leben gut leben kann. Frey beschränkt sich auf seine Schilderungen des Systems, der Klassen, der Ungleichheit, der widrigen Lebensumstände der Armen und gesellschaftlich Verstoßenen, die Ben natürlich folgen und die er bewusst aufsucht.

Es steckt durchaus Wahrheit, einige Quäntchen Lebensweisheit, Wissen und viel Jammer und Schmerz um die gesellschaftlichen Zustände in diesem Buch. Auch Liebe, die Suche nach einem besseren Leben, Religions-, Kirchen-, Systemkritik.  All dies macht den fehlenden Humor und die wohlfeilen Ratschläge gegen diese Zustände nicht wett. Der marode Zustand der Welt ist bereits bekannt.

Literarisch trotz aller Kunstgriffe nicht sonderlich hochklassig, ist das „Testament“ kein Buch für Atheisten. Es ist ein Buch für Gläubige aller Religionen (die es zutiefst hassen werden), eine Mahnschrift gegen Fanatismus und Sektierertum, für Agnostiker und solche, die es werden wollen. Ein Buch, welches zu lesen sich im Endeffekt wegen seiner Längen – in denen der Autor seine gesamte Betroffenheit und seinen Schmerz an der Welt schildert – nicht gelohnt hat.

„Die Bibel ist ein Buch. Bücher sind dazu da, Geschichten zu erzählen. Sie sind nicht dazu da, um Menschen das Recht zu nehmen, so zu leben wie sie wollen. Lebe so wie du dich fühlst und wie es für dich richtig ist, nicht so wie es in irgendeinem Buch geschrieben steht.“
Wer folgendem Satz des 14th Dalai Lama: „Love and compassion are the true religions to me. But to develop this we do not need to believe in any religion.“
zustimmen wird, braucht „Das letzte Testament der heiligen Schrift“ nicht zu lesen.
Meiner Ansicht nach darf Satire alles und hier hätte ein wenig Satire gedurft!

John Niven nahm sich des Themas in „Gott bewahre“ erheblich kurzweiliger, humorvoller und straighter an und brachte es mit „Seid lieb zueinander“ korrekt und prägnant auf den Punkt. „Das letzte Testament der heiligen Schrift“ bietet in seiner Welt- und Religionskritik keinerlei neue Erkenntnisse oder Gedanken. Es ist verzichtbar.

Buchdetails

  • Aktuelle Ausgabe : 11.November 2013
  • Verlag : Heyne
  • ISBN: 978-3-453-41048-0
  • Taschenbuch: 448 Seiten

 

3 Gedanken zu “Das Leben, nicht der Tod ist das große Mysterium

  1. Freudlos, das ist es. Ich empfand ihn bereits beim Lesen als derart verbissen in seine „Botschaft“ , das hemmte den Lesfluss gewaltig. musste gegen einen „inneren Widerstand anlesen. Klasse, dass du so kommentierst, trotz Länge weitergelesen hast und beide Meinungen nachvollziehen kannst. Das ist interessant! Wir hatten noch überlegt wie wir veröffentlichen, gemeinsam oder einzeln da der Geschmack so varierte dieses Mal. Merci und Grüße 😉

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  2. Genau der Humor hat mir auch gefehlt, ich war aber auch von der Eindrücklichkeit des Buches beeindruckt und von der klaren Sprache, die Missstände so darzustellen.

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  3. Ich teile beide eure Meinungen. 🙂 Ich habe das Buch gerne gelesen, weil ich mir gut vorstellen konnte, dass ein Messias in unserer Zeit genauso sein, handeln und behandelt werden würde, wie beschrieben. Das hat mit fasziniert.

    Aber es ist kein Buch, das ich weiterempfehlen würde, weil mir, wie dir, Thursdaynext, der Humor/die Selbstironie gefehlt hat. Es war zu plakativ und zu freudlos, mir haben „Charisma“ und Lebenslust des Messias gefehlt, von dem ich erwartet hätte, dass er mir zumindest eine klitzekleine weise Botschaft nach der Lektüre mitgibt, damit ich ihm seine Rolle wirklich abnehme.
    (Ich bin übrigens nicht gläubig und habe bestimmt keine Antworten in dem Buch gesucht. Aber Messias-Figuren finde ich immer interessant.)

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