Zu Beginn des unheilbaren Romantikers erläutert der Autor Frank Tallis weshalb er Psychologe wurde, schließlich ist es ein Beruf, bei dem, wie er behauptet, immer Kleenex Packungen auf dem Tisch stehen und er erzählt, dass er tausende Stunden damit verbracht hätte, Menschen beim Weinen zuzusehen. Das ist für mich eine recht abstossende Jobbeschreibung, doch wenn er erzählt wie spannend er es findet Menschen, die ein wenig abseits der Norm leben, zu beobachten, und wie interessant sie sind kommt der Punkt, weswegen ich mich für dieses Buch interessierte. Und ja, es ist Neugier, übles Gaffertum in die Seelen und Hirne fremder Menschen, so dass ich mich nach diesem Satz ein wenig geschämt habe ob meines Voyeurismus. Andererseits ist es extrem spannend wenn Tallis erläutert, wie schmal der Grat zwischen Verliebtheit und Wahnsinn ist und jede (Männer wie immer mitgemeint) die sich an die Anfangszeiten einer Liebe erinnert bemerkt das sehr schnell. Da wird Klingel und Telefon ignoriert, Freunde übel vernachlässigt, jenen die einen aus dem Haus locken wollen permanent abgesagt, so dass sie irgendwann anrufen und auf dem AB die Nachricht hinterlassen, dass wenn ihr es mal aus dem Bett rausschafft könnten wir ja was unternehmen. Die Gedanken kreisen fortwährend um das Objekt der Begierde und bis morgens um fünf wird geredet, obwohl am nächsten Tag der Job ausgeschlafene Individuen verlangt …
Doch Tallis Fallschilderungen gehen weit über den anfänglichen Paarirrsinn hinaus. Er hat die krassen Fälle, die jeden Rahmen einer erotischen Anziehung aus der Liebe werden kann und die auch suchthafte Formen annehmen kann erschreckend erweitert.
Nun ist Frank Tallis nicht nur klinischer Psychologe, sondern zusätzlich zu seinen wissenschaftlichen Publikationen auch noch Schriftsteller. 1999 hat er den „Writers’ Award by the Great Britain Arts Council“ Womöglich dank seines Berufes besitzt er nicht nur die Gabe der Empathie, sondern er versteht auch sich zugleich poetisch und präzise auszudrücken. Seine Fallbeispiele werden nicht bloßgestellt, er macht ihre Leiden bildhaft und mit liebevollen Worten erfahrbar, weckt Verständnis und Mitgefühl bei den Leserinnen. Dabei, er ist Engländer, schwingt ein unterschwelliger freundlicher Humor stets durch. Zwölf Geschichten über obsessive Liebe finden sich in „Der unheilbare Romantiker“, stilistisch und sprachlich ist das Buch ein Genuß, doch nach jeder Story musste ich pausieren, sie nachklingen lassen, bis ich bereit war, mich erneut auf ein weiteres trauriges Erleben einzulassen. Es sind traurige, absonderliche, deprimierende, wehmütige und ja, irre Berichte. Die deutlich machen wie schmal der Grat zwischen Liebe und Irrsinn ist. Die Normalität kann flugs, durch kleine Abweichungen, in tiefstes Leiden und zu bösen Denkperspektiven, aus denen allein kaum ein Entkommen möglich ist, führen. Tallis schreibt gut, aber er ist beileibe kein Oliver Sacks, wobei hier die Messlatte natürlich sehr hoch angelegt ist und es auch nicht fair erscheint, hier Vergleiche anzustellen, dennoch ist es mir sehr schwergefallen zur jeweils nächsten Geschichte überzugehen. Mir gibt es gerade zuviele Irre auf diesem Planeten, die nicht fähig zu Empathie, Respekt, Rücksichtnahme, Selbstreflexion und Objektivität sind, sich nur ihren Eigeninteressen verpflichtet fühlen und nach Macht oder deren Erhalt streben. Ich konnte mich nicht einlassen auf Tallis bedauernswerte Patienten.
Es ist niemals die Liebe, um die es sich handelt in diesen Fallschilderungen es ist Ver rücktheit, verrückte Gefühle und Gedanken, Wahn und Irrsinn und das mit Liebe in Verbindung zu bringen erscheint mir abstrus. Für viele Leser mag „Der unheilbare Romantiker“ ein faszinierendes Buch sein, die positiven Bewertungen Ian Mc Ewans, der TIMES und Nick Hornbys legen das nahe, mein Buch war es nicht.
Der unheilbare Romantiker – und andere Geschichten aus der Psychotherapie von Frank Tallis ist im Juni 2019 bei btb erschienen. Weitere Informationen durch Klick auf das Cover oder auf der Verlagsseite.