Since we fell

Ich kann einfach nichts dagegen tun: Fällt der Name Dennis Lehane im Zusammenhang mit einem neuen Buch, dann erliege ich unvermittelt einem starken Pawlow’schen Reflex. Ich muss es lesen. Die Einstiegsdroge war in meinem Fall seine grandios erzählte Geschichte um einen jungen Mann, der im Amerika der Prohibition einen steilen Aufstieg zum Gangster hinlegte. Seitdem muss ich zwanghaft jedes Buch dieses Meisters der Spannungsliteratur – eigentlich ist das nicht das richtige Wort für die Romane, die Lehane verfasst, doch man müsste wohl erst einen eigenen Begriff für seine Werke finden – besitzen, lesen, ins Regal stellen, jedem empfehlen, der nur irgendwas liest und wieder und wieder lesen, bis ein neues Buch von ihm erscheint. Begonnen hat Lehane mit einer Krimireihe, die nun peu à peu im Diogenes Verlag neu aufgelegt erscheinen wird und die mir unerklärlicherweise vorher nie aufgefallen war. Die Reihe um das smarte Ermittlerduo Kenzie/Gennaro ist nichts für zarte Gemüter, doch schon hier zeigte sich, worauf Lehane seinen Schwerpunkt immer wieder legt: die Komplexität seiner Figuren, das Menschsein im Allgemeinen. Während seine ersten Bücher eindeutig dem Krimi- oder Thrillerfach zugeordnet werden konnten, so ist das seit Längerem nicht mehr der Fall. Wer einen Thriller à la Fitzek & Konsorten von Dennis Lehane erwartet, wird wohl enttäuscht sein. Oberflächlichkeit ist nicht seine Stärke, Tiefe und Komplexität gepaart mit richtig starken Dialogen und einem spannenden eloquenten Sprachstil jedoch schon. Und wer nicht so ganz starr an gewissen Genrevorgaben klebt, der wird mit Lehanes neuestem Meisterwerk Der Abgrund in Dir mehr als glücklich werden.

Rachel Childs ist eine erfolgreiche Journalistin. Ihr frühes Leben war geprägt durch eine übermächtige Mutter, die um die Herkunft von Rachels Vater ein großes Geheimnis machte. Rachel selbst hat zumindest schemenhafte Erinnerungen an ihn und nachdem ihre Mutter bei einem Unfall verstirbt, stößt sie in deren Nachlass auf verschiedene Fotos, die ihr eine ihr unbekannte Seite ihrer Mutter zeigen und sie dazu bringen, sich mit Hilfe eines Privatdetektivs auf die Suche nach ihrem Vater zu machen. Mit Brian Delacroix findet sie einen attraktiven jungen Mann, der sich seine ersten Sporen als Detektiv noch verdienen muss, das aber nicht auf Kosten Rachels tun will. Er macht ihr mehr als deutlich, dass die Faktenlage viel zu dünn sei, um tatsächliche Erfolge bei der Spurensuche zu erzielen. Seine Ehrlichkeit – und eine gewisse Anziehungskraft seinerseits – beeindrucken Rachel sehr. Doch sie ist gebunden und zudem eher rational veranlagt. Die Karriereleiter erklimmt sie weiterhin fast mühelos – bis es zu einem einschneidenden Erlebnis auf Haiti kommt, das ihr ganzes Selbst vor laufenden Kameras ins Wanken geraten lässt.

Nun geht es auf der Karriereleiter rapide abwärts und auch ihre Ehe zerfällt in ihre Einzelteile. Der sonst so strukturierten, pragmatischen Rachel zieht es buchstäblichen den Boden unter den Füßen weg. Erst als sie (wieder einmal) zufällig auf Brian Delacroix trifft, scheint es wieder Gutes in ihrem Leben zu geben.

»An der nächsten Ecke wollte sie gerade rechts abbiegen, als sie nach links blickte und Brian sah. Er stand in dem kleinen Park. er hatte seinen Mantel ausgezogen und deckte damit den Obdachlosen zu. Er verließ den Park, schlug den Hemdkragen zum Schutz gegen den Wind hoch, und ging weiter in Richtung seiner Wohnung.«

Ein fürsorglicher attraktiver Mann, der offensichtlich nicht, wie andere, nur an sich denkt. Rachel hatte noch nie viel Fürsorge in ihrem Leben erlebt und so ist es nicht weiter verwunderlich, dass sie diese Fürsorglichkeit gerne wie eine warme Decke um sich schlingen möchte.

Dennis Lehane hat in einem Interview in der deutschen Ausgabe von Elle darüber Auskunft gegeben, wie er seine Geschichten erzählt. Im Fall seiner Protagonistin Rachel hatte er zunächst das Bild eines Mannes vor Augen, der von seiner Frau an einem Ort gesehen, ja ertappt wird, an dem er gar nicht sein sollte. Ausgehend von diesem Bild stellten sich ihm – wie immer, wie er betont – die Fragen nach den Beweggründen seiner Figuren. Weshalb befindet sich der Mann dort und weshalb ist diese Beobachtung für seine Frau so einschneidend? Wie immer sind es die Figuren, die Lehane so großartig und komplex entwickelt, wie immer ist es wichtig, deren Handlungen sichtbar zu machen – inklusive der Hintergründe – und wie immer gestaltet er die Handlung drumherum sprachlich ausgefeilt, mitreißend, so dass man seine Bücher einfach nicht aus der Hand legen kann.

Schnell wird klar, dass sich Rachel in eine Sackgasse manövriert hat. Alleine wird sie dort nicht mehr herausfinden. Doch dieses Mal ist da Brian. Er wird so etwas wie ein Rettungsanker für sie, der sie geduldig sein lässt, wie sie ist, Als ihre Angst vor Menschenansammlungen und großen Plätzen immer stärker wird, erklärt er sie nicht für verrückt oder wendet sich peinlich berührt ab, sondern zeigt einfach nur Mitgefühl und versucht, ihr ihre Scham zu nehmen.

»Dann lachte er leise. »Du hast wirklich auf einen Scientologen gekotzt?«
»Das ist überhaupt nicht lustig.«
»Doch, Schatz, das ist es. Ganz ohne Zweifel.« Er berührte ihr Glas mit seinem und trank.«

Kleinigkeiten aus solchen Szenen, ein leises Lachen, der Scientologe – der im Übrigen später noch schwer vermisst wird – sind es, die Lehanes Texten den gewissen Charme verleihen, durch den er seinen Leser*innen auch Gauner und Gangster glaubhaft und auch noch quasi liebenswert erscheinen lässt. Die Komplexität, die er in seine Figuren legt, ist einzigartig und macht diese lebendig. Keine seiner Figuren ist stereotyp angelegt, alle haben das Zeug dazu, Gutes und Böses zu tun, bestehen aus Licht und Schatten. Ihre Handlungen wirken nie übertrieben, abgeschmackt oder unglaubwürdig. Für Dennis Lehane sind das Wichtigste in seinen Romanen zwar die Beweggründe menschlichen Handelns, doch daneben kreist sein Plot auch immer um ein bestimmtes Thema. Zwischen Rachel und Brian geht es eindeutig um Beziehungen.

»Er war ein guter Mensch. Der beste, den sie jemals kennengelernt hatte. Damit war er vielleicht nicht der Beste auf der Welt, aber doch der Beste für sie.«

Rachels Mutter war, obwohl alleinerziehend, durch ein Buch berühmt geworden, in dem die Phasen einer Beziehung analog der Stufen einer Treppe analysierend dargestellt wurden. Und natürlich ist sich Rachel dieser Phasen oder Stufen mehr als bewusst, doch ob ihre eigene Beziehung zu Brian durch diese Phasen zu beschreiben war, ist zweifelhaft. Brian ist ihr in allem eine Stütze, doch er hat ein Geheimnis, mindestens eines, und um dieses zu lüften, muss Rachel über ihren Schatten springen …

Dennis Lehane beginnt seine Geschichte um Vertrauen und damit um die Basis jeder guten Beziehung mit einem Knaller, mit einem Satz, der sicherlich in der ersten Liga bester erster Sätze spielen kann:

»An einem Dienstag im Mai, im Alter von sechsundreißig Jahren, erschoss Rachel ihren Mann.«

Wie und / oder ob es dazu kommt, das erzählt Lehane in einer sprachlich ausgefeilten, spannenden, mitreißenden Geschichte, die die Leser*innen immer mehr in die Untiefen des Plots zieht. Wie Rachel müssen sie ihren eigenen Weg finden, die Bruchstücke der Wahrheiten zu einem Bild zusammensetzen, raus gehen wie Rachel, mitten in die Geschichte hinein, richtig tief, ins Dunkel, in die Abgründe.

»[…] auf ihrer Karte waren das kaum erkennbare Linien, die wie Adern von der Landstraße abgingen und sich dann wie ein hoffnungsloser Irrgarten immer weiter verzweigten. inzwischen war die Dunkelheit hereingebrochen, es war so dunkel wie in einem deutschen Märchen oder wie bei einer Sonnenfinsternis.«

Aus dieser Dunkelheit wieder herauszufinden, aus eigener Kraft, ohne dass einem alles ständig auf dem Silbertablett serviert wird, macht riesigen Spaß. Mir zumindest. Spannende Lektüre mit Tiefgang – noch habe ich keine Schublade dafür finden können. Außer vielleicht einfach Lehane.

Selbstverständlich bleibt bei solch einer Lektüre die moralische Frage nach der Verarbeitung von Vertrauensbrüchen nicht aus. Ich habe hier für mich meine ganz engen Grenzen, was mein persönliches Leben – und da bin ich eindeutig von meinen Erfahrungen geprägt – angeht. Natürlich kommt es auch auf die Schwere des Vertrauensbruchs an. Aber gewisse Dinge sind eindeutig ein NoGo. Doch die Gauner Lehanes können mir aufgrund ihrer eigentlich recht aufrichtigen Art immer wieder glaubhaft machen, dass sie nicht die schlechtesten Menschen sind. Brian mag Rachel über so einiges in seinem Leben im Ungewissen gelassen haben, aber seine tiefe Verbindung zu ihr, ist echt. Hat er sonst für alles einen Plan B, für sie gibt es keinen, sie ist es, der er einfach verfallen ist. Ob Rachel das jedoch gelten lässt … das steht auf einem anderen Blatt.

Wie wird Gillian Flynn – die Autorin des Bestsellers Gone Girl – so schön auf dem Rückentext des Buches zitiert: »Lehane ist der Meister komplexer Charaktere, die sich in spannender, temporeicher Action wiederfinden. Ich lese alles, was er schreibt.« – and so do I.

Mit bestem Dank an den Verlag für das bereitgestellte Vorabexemplar und in Erwartung weiterer  grandioser Geschichten aus dem eigens von Dennis Lehane entwickelten Genre das noch zu benennen sein wird.

Der Abgrund in Dir von Dennis Lehane ist im August 2018 im Diogenes Verlag erschienen. Weitere Informationen über einen Klick auf das im Beitrag abgebildete Cover oder auf der Verlagsseite.

8 Gedanken zu “Since we fell

  1. Ach Du glüclicher. Ja im Aufruhr jener Tage – da ist der gute Joe noch klein, aber in der Nacht und Am Ende einer Welt ist halt auch noch so meine Zeit 😉 Prohibitionsära in den USA. The Drop ist auch gut, recht kurz, war ja eigentlich nur als Drehbuch gedacht, dann aber als Roman ausgearbeitet. Dann freu Dich drauf. Ich habe ja die Gennaro/Kenzie reihe noch nicht durch 😉

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  2. Das mag ich ja an Lehane, Er ist unheimlich facettenreich, spielt mit den Genregrenzen („Mystic River“ oder „Shutter Island“) und erfindet sich immer wieder neu. Ich muss aber gestehen, dass ich außer den beiden genannten und der Kenzie/Gennaro-Reihe noch keine weiteren gelesen habe. So habe ich mir die O’Loughlin (so hieß er glaube ich)-Trilogie noch aufgehoben, ebenso wie „The Drop“. Es gibt nix Schlimmeres, als wenn man von einem seiner Lieblingsautoren keine ungelesenen Bücher mehr hat. 😉 Da ich ohnehin kein Novitäten-Leser bin, bleibt also immer noch was in der Hinterhand. Ich freue mich aber, wenn es soweit ist und habe dank Dir gerade wieder richtig Lust auf Lehane bekommen. 🙂

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  3. Strike! Ja, ich habe vorgestern oder gestern eine Besprechung gelesen, der ich nicht folgen konnte. Als mies wurde das Buch ab der zweiten Hälfte beschrieben. Das ist es überhaupt nicht, aber man muss sich halt vorbehaltlos in diese Geschichte begeben. Er ist nicht so hart, wie in seiner Gennaro/Kenzie Reihe – also sprachlich und auch was die Geschehnisse angeht – aber hier geht es einfach auch um mehr, als nur Krimi oder Thriller. Bin gespannt, wie Du es finden wirst!! LG zurück

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  4. Würde ich nicht sowieso wie du jedes Lehane-Werk blind kaufen, deine Rezension hätte mich letztlich überzeugt. Schöne Besprechung und Würdigung eines Ausnahme-Autors. LG aus der Crime Alley

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  5. Oh wie schön!!! Hoffentlich macht es Dir genauso viel Freude wie mir. Es gibt auch andere Stimmen, aber ich denke, wenn man das Buch nicht unter der Überschrift Thriller liest, denke ich, sollte man wirklich nicht enttäuscht werden. LG, Bri

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