Es ist ja immer ein Segen, wenn man einfach NICHTS von einem Buch weiß und es unbeeinflusst genießen kann. Als ich „Eleanor Oliphant is completely fine“ im Buchladen stehen sah, dachte ich nicht lange nach. Ich freute mich über die knalligen Farben, lachte über die Tatsache, dass vorne das Buch von der US-Schauspielerin Reese Witherspoon gelobt und hinten auf der Rückseite auch gleich der „soon to be“-Film zum Buch mit ihr beworben wurde und staunte, dass – wie ich auf den dritten Blick erst kapierte – Reese auch noch einen (virtuellen) Buchclub hat, in dem sie mit der Welt über ihre aktuelle Lektüre spricht.
Gelesen habe ich das Buch einige Zeit später im Familienurlaub. Und ich übertreibe nicht, wenn ich sage: Ich konnte nicht mehr aufhören!! Ich nahm es sogar mit ins Hallenbad an einem regnerischen Tag, setzte mich auf eine eklige Plastikliege und ließ die Kinder Spaß haben. Ich legte es beim Abendessenvorbereiten auf die Arbeitsplatte neben mich, um eben noch ein paar Seiten weiterzulesen, und ich reagierte nicht, wenn mein Göttergatte mich ansprach, während ich las, weil ich so vertieft war. Es ist für mich definitiv bislang das beste Buch, das ich dieses Jahr gelesen habe!
Eleanor ist eine junge Frau, die ein gutes Herz hat, der es aber massiv an sozialem Feingefühl fehlt. Sie ist nicht böswillig oder unfreundlich, sie hat nur einen komplett unterentwickelten Instinkt dafür, wie man sich in manchen Situation verhält bzw. was man sagt und was man – rein taktisch – besser nur denkt, weil es sein könnte, dass das Gegenüber falsche Schlüsse daraus zieht … Sie ist so gänzlich unbedarft, kennt keine Schamgrenze, bemerkt nicht im Ansatz, wenn sich ihr Gegenüber vor Fremdschämen windet. Dieses Konzept könnte man als billige Möglichkeit missbrauchen, Seiten zu füllen, indem man sich über jemanden lustig macht, der seine Fehler nicht bemerkt. Doch das ist nicht so. Eleanor wird nicht bloßgestellt, sie wird von Gail Honeyman lediglich genau skizziert, doch dabei immer liebevoll behandelt. Das alles gehört zum großen Ganzen, denn die große Frage, die über all dem schwebt ist ja: Warum ist Eleanor so?
Dementsprechend schräg ist auch gleich der Start, wenn Eleanor beschreibt, wie sie am Vortag wegen Rückenschmerzen beim Arzt war. Unverblümt erklärt sie ihm, was sie als Grund für die Schmerzen ansieht:
„What is it that you think is causing your back pain, Miss Oliphant?“
„I think it’s my breasts, Doctor,“ I told him.
„Your breasts?“
„Yes,“ I said. „You see, I’ve weight them, and they’re almost half a stone – combined weight, that is, not each!“ I laughed. He stared at me, not laughing. „That’s a lot of weight to carry around, isn’t it?“ I asked him. „I mean, if I were to strap half a stone of additional flesh to your chest and force you to walk around all day like that, your back would hurt too, wouldn’t it?“
He stared at me, then cleared his throat.
„How … how did you …?“
„Kitchen scales,“ I said, nodding. „I just sort of … placed one on top. I didn’t weigh them both, I made the assumption that they’d be roughly the same weight. Not entirely scientific I know, but-“
„I’ll write you a prescription for some more painkillers, Miss Oliphant,“, he said, talking over me and typing.
Das Gute ist, Eleanor ist nicht unglücklich. Sie sieht nicht, wie den Leuten die Kinnlade herunterklappt ob ihrer Äußerungen, sie bemerkt nicht, dass hinter ihrem Rücken getuschelt wird – und wenn, dann tut es ihr nicht weh, denn sie sieht den Fehler bei den anderen. Über den jungen Herrn Doktor beispielsweise schüttelt sie innerlich altklug den Kopf und wundert sich über seinen schlechten Umgangston mit seinen Patienten:
That’s the only downside to the younger ones; they have a terrible bedside manner.
Das ist wichtig, so bleibt Eleanor geschützt in ihrem kleinen Kokon.
Ihr Kokon: Eleanor hat einen kleinen Job als Sachbearbeiterin in der Finanzabteilung einer Firma für grafische Gestaltung. Dort arbeitet sie seit ihrem Studienabschluss. Sie gilt als verschroben, aber zuverlässig – quasi als harmloser Freak. Ihr Chef schätzt ihre gewissenhafte und loyale Art – sie ist anspruchslos und ehrlich, braucht kaum mal einen freien Tag und ist so gut wie nie krank.
Eleanor hat keine Freunde, geht nie aus – höchstens mal auf Firmenfeiern, die sie aber kaum genießen kann, da sie die Umgangsformen bei solchen Events weder dechiffrieren kann, noch selbst beherrscht. Sie folgt in ihrem Alltag einer festen Routine: Sie geht zur Arbeit, kauft Lebensmittel ein, geht nach Hause und telefoniert einmal die Woche mit ihrer Mutter. Am Wochenende trinkt sie gern das eine oder andere Gläschen Wodka. Irgendwie muss sie die Zeit bis Montag ja rumkriegen. Man kann es nicht schönreden: Eleanor Oliphant lebt nicht wirklich, sie funktioniert. Oder krass gesagt: Sie vegetiert vor sich hin.
Ihr privates Telefon klingelt so gut wie nie, wenn doch, dann reagiert sie recht eigenwillig:
My phone doesn’t ring often – it makes me jump when it does – and it’s usually people asking if I’ve been mis-sold Payment Protection Insurance. I whisper I know where you live to them, and hang up the phone very, very gently.
Der Wendepunkt in ihrem kleinen Dasein kommt ungeahnt – und besteht genaugenommen aus zwei Situationen, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben: Sie schockverliebt sich in den Sänger einer lokalen Band und ihr PC bei der Arbeit geht kaputt.
Während die erstgenannte Tatsache eher ihre äußere Erscheinung verändert, verwandelt die zweite Tatsache nach und nach vor allem ihr Innenleben.
Um den Sänger irgendwann mal kennenzulernen und zu beeindrucken, muss sie etwas ändern – das ist sogar der weltfremden Eleanor klar. Sie beschließt, mehr auf ihr Äußeres zu achten und zu tun, was offensichtlich andere in ihrem Alter so machen. Eine beeindruckende Odyssee beginnt, bei der sie unter anderem zur Maniküre geht, sich einer Brasilian-Wax-Anwendung unterzieht, sie sich dem ihr fremden Thema der Kosmetik zuwendet und neue Kleider kauft. Natürlich alles auf die ihr ureigenste Weise …
Durch den kaputten PC bei der Arbeit lernt sie wenige Tage nach dem Konzert den neuen IT-Fachmann Raymond kennen, der gerade erst ein paar Wochen in ihrer Firma arbeitet. Ein unattraktiver junger Kerl, wie sie findet, mit Bäuchlein, schütterem Haar und rosafarbener Haut – ein bisschen wie ein Schweinchen. Nicht zu vergleichen mit dem wunderbar eleganten Sänger, dem ihr Herz gehört, der so edle Lederschuhe trägt – und nicht ausgelatschte Turnschuhe. Doch wenigstens ist Raymond fachlich kompetent und so läuft das Gerät bald wieder. Eleanor hofft inständig, dass sie dem wenig beeindruckenden IT-ler möglichst nicht so bald wieder begegnen wird.
Kurze Zeit später verlassen Eleanor und Raymond zeitgleich das Büro und Eleanor muss zu ihrem großen Leidwesen ein Stück des Weges mit ihm gehen. Raymond versucht sich in Smalltalk, doch Eleanor ist eine harte Nuss. Als sie am Fußgängerüberweg auf Grün warten, klappt auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein alter Mann zusammen und bleibt regungslos am Boden liegen. Während Raymond sofort empathisch losrennt, um zu helfen, ist Eleanor völlig ratlos. Was soll sie nun tun? Wie muss sie sich verhalten? Eine solche Situation musste sie noch nie bewältigen. Doch Raymond scheint zu spüren, wie schlecht sie mit der Sachlage klar kommt und leitet sie an. Dann steigt er zu dem alten Herrn in den Krankenwagen, jedoch nicht, ohne Eleanor vorher noch seine Handynummer aufzuschreiben und sie dazu zu verdonnern, ihn später anzurufen und sicherheitshalber die Einkaufstaschen des Gestürzten mitzunehmen.
Dieser Vorfall verändert Eleanors Leben drastisch. Sammy Thom, so heißt der alte Herr, überlebt seinen Herzinfarkt und wird zu einem unsichtbaren Band, das Raymond und Eleanor aneinander bindet. Durch Sammy und die Tatsache, dass Raymond und sie nun seine Lebensretter sind, wird die junge Frau gezwungen, auf eine Weise mit anderen Menschen zu interagieren, wie sie es seit Jahren nicht getan hat: spontan und unplanbar. Eleanor muss plötzlich täglich mehrfach aus ihrer Komfortzone heraustreten, hinein ins unbekannte Terrain der zwischenmenschlichen Kommunikation. Und der unscheinbare, vermeintlich so ungehobelte Raymond wird zu einer der Lichtgestalten in Eleanors Leben. Ohne dass sie es merkt, ist er ihr personifizierter Leitfaden durch das zwischenmenschliche Chaos, das die Welt für sie darstellt. Und sie beginnt zu begreifen, dass sie einen wackeligen Schritt nach dem anderen nach vorn gehen muss, angeleitet von Raymond, um ein echtes Leben zu bekommen.
Ein Buch, das von unglaublichem Sprach- und Wortwitz überbordet, jedoch auf eine ganz subtile Weise. Kein schenkelklopfendes Lachen ruft das Buch hervor, sondern ein inneres Glücksgefühl darüber, dass es Menschen gibt, die mit der Sprache so etwas anstellen können. Gail Honeyman skizziert diese Eleanor Oliphant auf so umwerfende Weise, mit einem derart abstrusen Charme – trotz ihrer Defizite im sozialen Umgang mit anderen -, dass man nicht anders kann, als sich in die Hauptfigur zu verlieben. Es ist kein leichtes Buch, das Thema klingt nur vermeintlich locker und Eleanors Schicksal ist bedrückend, doch das Traurige, Erschütternde kommt mit einer derartigen Leichtigkeit daher, dass man mit Eleanor zusammen genug Stärke entwickelt, das durchzustehen. Es scheint, als würde dies eines der ersten Bücher werden, das ich tatsächlich noch einmal lesen werde, weil es schöner wird, je öfter und genauer man es liest.
Eleanor Oliphant is completely fine von Gail Honeyman ist auf Englisch bei Penguin Books und auf Deutsch bei Bastei-Lübbe erschienen. Nähere Infos zum Buch über einen Klick auf das Cover im Beitrag oder auf der Verlagsseite.
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