Was passiert, wenn der Beruf zur Obsession wird? Evren Attocker darf das hautnah erleben. Seine Eltern haben sich komplett der Vulkanforschung verschrieben, ein Leben außerhalb des Bannkreises dieser feuerspeienden Berge erscheint ihnen nicht sinnvoll.
Einfach ist das für ihren Sohn, der ein Einzelkind bleibt, nicht. Aus einem alten Einsiedlerhof haben seine Eltern mithilfe eines Architekten einen schmucken Beobachtungsposten gemacht. Evren ist ein Wunschkind, seine Mutter hat vor ihm viele Kinder verloren, keines wollte lang genug im Mutterleib bleiben, um lebensfähig zu sein. Doch Evren scheint eine Kämpfernatur zu sein, denn er setzt sich durch, und schafft es, das Licht der Welt zu erblicken. So sehr sie ihn ersehnt und erhofft haben, so verwundert sind die Eltern, dass es ihn nun wirklich gibt. Und so sehr sie ihn auch lieben, so wenig ist es ihnen möglich, wegen dieses Kindes ihre große Passion, die Vulkane, aufzugeben. Und so ist Evren zwar umgeben von diesem Kokon der Liebe, aber doch auch viel allein.
Das wunderbare Haus am Fjord ist vor allem eine Forschungsstation, denn es bietet einen unverbauten Blick auf den Vulkan Rakja. Wenn Vater und Mutter nicht gerade den Gegenstand ihrer Untersuchungen genauer beobachten, sind sie auf Reisen, vermessen und erforschen andere Vulkane. Zum Glück gibt es dann immer Itys, den verlässlichen und besten Freund seiner Eltern. Auch er ein Vulkanaffiner, doch Bücher haben einen ebenso großen Stellenwert für ihn. Er kümmert sich um Evren, wann immer Not am Mann ist.
Evren hat keine gleichaltrigen Freunde, denn die Bewohner des nächstgelegenen Dorfes sind den „Reingeschmeckten“ abweisend bis feindlich gesinnt, sie können nicht verstehen, was diese seltsamen Menschen so abgeschieden in dem ehemaligen Hof treiben. Der Weg zur Schule ist zudem weit, sich da auch noch nachmittags mit Kindern aus dem Ort zu treffen, kommt Evren nicht in den Sinn. Und doch ist ihm das Elternhaus zwar Zuflucht und Fixpunkt, gleichzeitig aber auch Inbegriff des Grauens, denn von Anfang an hat der Junge eine unbändigende Angst vor dem Vulkan, auf den er ständig schauen muss. Er ist wie eine tickende Zeitbombe für ihn. Albträume plagen ihn, in denen Rakja Feuer speit und brodelnd seine Lava über das Land ergießt. Ablenken kann ihn dann Itys, sein „Zusatzvater“, mit seinen Türmen voller Bücher und mit seinen Geschichten, die er erzählt.
Das funktionierende Familienkonstrukt Vater-Mutter-zweiter Vater-Kind wird jäh zerstört durch den unerwarteten Tod von Evrens Mutter und den rasch darauf folgenden Suizid des Vaters.
In Rückblenden erzählt Evren sein Leben, das zuerst von den Eltern und dann von Itys geprägt wurde. Erst spät hat Evren das Bedürfnis, selbst aktiv zu werden, er zieht aus, lernt Buchhändler in einer großen Stadt, der Kontakt zu Itys lockert sich. Die Geschichte, die zuerst in fernen, doch realen Ländern zu spielen scheint, wird immer fantastischer und mit ihr die Orte, an denen sie spielt. Nach und nach füllt Evren die Lücken seiner Biografie und lässt den Leser teilhaben an seiner Katharsis. Was anfangs nicht erwähnt wird, nimmt immer mehr Raum ein: Nach dem Tod der Eltern wurde der junge Evren schwer krank. Itys schleppte das Kerlchen schließlich zu einem Wunderheiler, da es sich im wahrsten Sinne des Wortes vor Trauer aufzulösen schien.
Erst als junger Erwachsener, auf der Suche nach Itys, den er aus den Augen verloren hat, kann er über diese schreckliche Krankheit reden, die ihn damals heimsuchte und als Dreizehnjährigen fast dahinraffte. Auf seiner langen Reise nach Gadjan, dem fantastischen Ort, an dem er seinen Ziehvater vermutet, trifft er einen Pfarrer, dem er all dies erzählt.
Und je weiter Evren wandert in Florian L. Arnolds „Die Ferne“, um so mystischer werden die Länder, die er durchquert. Er wandelt in einer anderen Welt, offiziell auf der Suche nach Itys, inoffiziell aber immer auch auf der Suche nach sich selbst.
In dem kleinen Mirabilis Verlag erschienen, erschafft Arnolds Buch eine eigene kleine Welt, die einen nicht so ganz loslässt – auch Tage, nachdem man den Roman zu Ende gelesen hat. Viele beeindruckende Szenen und Landschaften lässt der Ulmer Autor vor dem Auge des Lesers entstehen. Er zerrt uns mit von Szenario zu Szenario, der Geist wird gefangengenommen von seinen üppigen Bildern, die er da heraufbeschört, man verliert sich darin, am Ende – ein wenig, wie auch Evren sich darin zu verlieren scheint.
„Die Ferne“ ist schwer einzuordnen. Was beginnt wie ein üblicher Roman, angesiedelt in einem irdischen Land, endet als mystische Parabel in einer Fantasiewelt.
Ein spannendes Projekt, das Beachtung finden sollte. Geschehen ist das zum Beispiel bei „Sätze und Schätze“, wo das Buch ebenfalls besprochen wurde: https://saetzeundschaetze.com/2016/08/29/florian-l-arnold-die-ferne-2016/
Der Mirabilis Verlag aus Miltitz bei Meißen ist eine One-woman-Show: Barbara Miklaw ist Pressefrau, Lektorin und Verlagsleiterin in Personalunion. Dafür hat der noch junge Verlag (seit 2011) schon eine ganz beachtliche Backlist. Im aktuellen Verlagsprogramm beschreibt Miklaw ihren Verlag wie folgt:
Programmschwerpunkt sind literarische Erzählungen sowie Literatur, die einen Bezug zu Film und Fotografie hat. Alle Bücher sind aufwendig und liebevoll gestaltet, die meisten Bücher enthalten – je nach Thema – Grafiken, Zeichnungen oder Fotografien.
Aus der Reihe der kleinen, unabhängigen Verlage für mich mal wieder eine besondere Perle, auf die ich rein zufällig durchs Stöbern bei „Sätze und Schätze“ gestoßen bin.
Buchdetails:
- Aktuelle Ausgabe: 16. März 2016
- Verlag: Mirabilis Verlag
- ISBN: 978-3-9816674-4-8
- Klappenbroschur: 264 Seiten, mit vielen Abbildungen
Das hört sich gut an. Habe das Buch schon auf meine Vormerkliste gesetzt.
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Es ist völlig anders, als das Gros der Bücher, die ich sonst so lese. Spaß durch Sprache und „Kopfkino“ kann ich hier garantieren!
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Ein, wie ich finde, wahnsinnig spannendes Sujet. Das Schicksal von Kindern, deren Eltern einander im Grunde genug sind. ist auf besondere Art tragisch, denn sie wachsen im Angesicht einer Traumvorstellung auf, die viele von uns mit sich tragen, die für Außenstehende aber verhängnisvoll werden kann. Und dann noch das begleitende Thema der Vulkane! Sehr vielversprechend.
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Liebe andere Birgit, ja, es ist jammerschade, wie viel untergeht im Bücherberg Deutschlands – oder wohl eher sogar der Welt … Aber wir sind die Trüffelschweine, sozusagen, die suchen und die edlen Kostbarkeiten finden 😉
Was ich aber ehrlich gestehen muss: Ich habe das Ende (das wir natürlich hier NICHT vorwegnehmen) nicht so wirklich verstanden *grübel*, da können wir auf anderen Wegen vielleicht mal drüber philosophieren …
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Liebe Birgits – 😉 – ja zwei Birgits hier, die vom gleichen Buch begeistert sind, da muss die Bri dann doch zuschlagen. Bücher, die einen so gefesselt haben und irgendwie in dem großen Strudel nicht so richtig auftauchen tun mir auch immer weh/leid. Wir tun unser Bestes, um gerade solche Perlen zu finden und weiterzureichen – genau das macht mir das Bloggen auch immer wieder so schön. Es geht um die Sache, für die wir uns einsetzen. Na dann müssen wir das Ganze einfach immer wieder hochholen und pushen. ich bin jetzt jedenfalls äußerst gespannt auf diese Perle. Lieben Dank an euch zwei!! Bri
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Das freut mich jetzt so richtig – für das Buch, für den Autoren, für die Verlegerin, aber auch für mich. Manchmal findet man so tolle Romane, die aber, weil außerhalb des Mainstreams wenig Beachtung finden (selbst in den Blogs). Und leider blieben auch die Aufrufe des Beitrags zur „Ferne“ überschaubar: Dass das jedoch beachtet hat und auch nach länger Zeit noch rezensiert und sich offenbar ebenso gefangen nehmen lässt von diesem Buch – das sind die Dinge, die am Bloggen wiederum unendlich Freude machen. Mmich hat das Buch ebenso fasziniert wie Dich, und ich war wochenlang danach in dieser .besonderen Stimmung – es lässt einen nicht so schnell los, es ist wirklich eine Perle!
Herzlichen Dank auch für Deinen Link!
Birgit
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