blutige Realität

„Ich atme, wenn sie mir mit auf dem Rücken zusammengebundenen Händen, einen Knüppel zwischen die Schulterblätter strecken und diesen als Hebel benutzen, bis ich schreie: ‚Bitte, hören sie auf, bitte. Ich bitte um Gnade.‘ Wenn sie mir Metallstifte unter die Finger- und Fußnägel treiben, atme ich nach Luft ringend ein und aus, während unendlich langsam Sekunde um Sekunde verrinnt. ‚Bitte, hören Sie auf, bitte. Ich bitte um Gnade‘, stöhne ich, während die Zeit stillzustehen scheint. Dann ein erneuter Schrei, ein Flehen, mein Körper möge verschwinden, sich sofort in seine Einzelteile auflösen.“

Wer nach diesen Zeilen schluckt und sich sträubt weiter zu lesen, den kann ich gut verstehen. Verpassen würde er ein eindringliches und erschütterndes Manifest über das Tier im Menschen, verpassen würde er auch die Hoffnung und die Menschlichkeit die diesem Tier entgegengesetzt wird.

Das Massaker in der südkoreanischen Stadt Gwangju, resultierte aus einer studentischen Demonstration für mehr Demokratie, die brutal durch das Militär zurückgeworfen wurde. Vom 18. bis 27.Mai 1980, wurden über zweitausend Menschen, meist Zivilisten, wahllos durch das Militär regelrecht abgeschlachtet. Menschenwerk ist ein mit mehreren Erzählungen, die über einige Jahrzehnte entstanden, durchzogenes Buch, das, aus der Sicht der Betroffenen geschildert, ein erschütterndes Bild auf dieses Massaker wirft. Dabei geht es weniger um die Zeit während des Aufstandes, als um die Beschreibung des Grauens der Folter und Misshandlungen, die Unbeteiligte beliebig über sich ergehen lassen mussten.

Das Massaker wird sehr krass dargestellt, Han Kang beschreibt aus der Sicht eines toten Opfers, wie es sich anfühlt auf einem Leichenberg zu liegen. Und von oben heraus sachlich und objektiv auf den eigenen zerstückelten Körper zu schauen.

„Sie drangen in das Unterholz hinter dem leeren Platz vor. Auf den Befehl eines Mannes hin – offenbar der Anführer – stapelten sie dort unsere Körper wieder über Kreuz aufeinander. Meiner war der zweite von unten und wurde von den anderen ziemlich zerquetscht. Trotzdem floss kein Blut mehr aus mir heraus. Nach hinten gekippt, den Mund offen, schien mein Gesicht in der Dunkelheit des Waldes noch fahler als zuvor. Zum Schluss warfen sie einen Strohsack über den Turm aus Leichen, womit dieser wie ein riesiges Ungeheuer aussah, ein Ungeheuer mit einem Dutzend Klauen.“

Dutzende von jungen Studenten sitzen mit Waffen in einem verbarrikadierten Haus und warten den Ansturm des Militärs ab. Sie haben etwas wofür sie kämpfen können. Sie kämpfen für mehr Demokratie, für Freiheit, für ein besseres Leben. Das Militär stürmt das Haus, doch die Studenten bringen es nicht fertig, zu schießen. Warum haben sie nicht geschossen?

„Gerade noch zerrissen und blutend waren sie wieder geheilt. Ich war wie gebannt. Mein Herr, wissen Sie, wie stark es einen machen kann, wenn man überzeugt ist, ein anständiger und guter Mensch geworden zu sein? Kennen Sie das Gefühl, vom Glanz dieses makellosen Schatzes geblendet zu sein und sein Gewissen mitten auf der Stirn zu tragen?“

Die Menschlichkeit, das Gewissen siegt über das Gefühl einen Kampf austragen zu müssen. Doch ein Gewissen zu haben bedeutet im besten Falle Tod, im schlimmsten Falle Folter. Das Kernstück des Buches bilden für mich allerdings nicht, die drastischen Beschreibungen des Krieges, das fast schon klinisch nüchtern beschriebene blutige Gemetzel, nein, Han Kang geht noch weiter. Schmerzlich und subtil erzählt Sie von den Leiden, die ein Mensch ertragen kann. Leiden, die sich abseits des Hauptschauplatzes ereignen. Menschen, die aufgrund des Aufstandes in anderen Städten, Gemeinden aufgegriffen werden. Die verhört und dabei geschlagen werden. Selbst sieben einfache Ohrfeigen benötigen sieben Tage um aufgearbeitet zu werden. Wie lange Zeit braucht es, um die anderen Leiden zu vergessen?

„Wie schaffe ich es bloß, die erste Ohrfeige zu vergessen. […] Den ersten Schock, als sie das Gefühl hatte, ihr Hals säße nicht mehr auf ihren Schultern.“

Die Zeit, sagt man, heilt alle Wunden. Doch die Wunden sitzen hier tief. Die Erzählungen sind im Buch chronologisch nach ihrem Entstehen angeordnet. Nach und nach bildet sich ein erschreckendes Bild des für mich bisher unbekannten Gemetzels ab. Selbst Jahre nach dem Vorfall sind die Wunden der Zurückgebliebenen noch nicht geschlossen. Wie lebe ich mit dem Leid das ich gesehen habe weiter? Wie vergesse ich den grausamen Tod meiner Liebsten? Ein erschütterndes Buch, das mir mal wieder klar gemacht hat, wie zufällig es doch ist, am richtigen Platz zur richtigen Zeit geboren worden zu sein. Uns heutigen westlichen Zivilisationsbürgern, die nie mit dem Krieg oder einer blutigen Gewalt konfrontiert wurden, fällt es schwer, diese blutige Realität ansatzweise zu begreifen. Ein Buch von einer schmerzenden atmosphärischen Dichte, das mich teils sprachlos zurückgelassen hat. Ich musste das Buch immer wieder zurücklegen. Was können Menschen nur für Werke anrichten.

Ausnahmsweise passt hier doch mal ein Klappentext, mit dem ich schließen möchte:

„Han Kang zu lesen ist wie in einen Strudel aus Brutalität und Zärtlichkeit geworfen zu werden, aus dem man durchgeschüttelt, perplex und tief bewegt wieder auftaucht.« Doris Dörrie

Buchdetails:

  • Aktuelle Ausgabe : 15. September 2017
  • Verlag : Aufbau
  • ISBN: 978-3-351-03683-6
  • Gebunden: 224 Seiten

2 Gedanken zu “blutige Realität

  1. Alex, Hut ab, ich muss das nicht lesen. Ich glaube sofort, dass es gut ist, aber ich kann mich zur Zeit nicht mit solcher Wucht abgeben ;). Trotz der guten Besprechung. LG

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