Es gibt Situationen, die das ganze restliche Leben verändern. Nicht nur das eigene, auch das Leben der Menschen die einem nahe sind. Was wäre wenn? ist natürlich eine theoretische Frage, ebenso die Frage, welche Situationen, Aktivitäten welche späteren Ergebnisse ausgelöst haben. Das Leben ist nun mal seriell und wir müssen mit unseren Entscheidungen leben und sie akzeptieren. Das schließt dann eben auch die spontanen Verfehlungen mit ein.
Das vorliegende Buch handelt von einer ganz normalen Familie. Jede Familie hat ihre Geheimnisse, die meist tief vergraben in den Menschen liegen und mit Schichten von Scham, Gedanken und Zeit bedeckt, fast unauffindbar, aber lauernd in der Tiefe des Gemütes schlummern. Diese Familie ist so einfach, aber doch im Einzelnen so besonders, dass ich Euch die einzelnen Charaktere vorstellen möchte. In Sonja Heiss‘ Debüt bekommen alle ihre Zeit und Chance, sich und ihre Gedanken, Gefühle zu äußern.
Das Buch beginnt mit einer E-Mail einer Tochter an ihren Vater, der gestorben ist. Das Kapitel fängt mit einer Jahreszahl-Angabe an. Ist das ein Countdown? Ein Countdown wie lange der Vater noch lebte, als Retrospektive? Das Interesse ist erst mal geweckt.
Hans ist ein erfolgreicher Anwalt, verheiratet mit Ellen, zwei Kinder und bekommt seine Wut nicht in den Griff. Schon die Anfangsszene zeigt, was das Buch ausmacht. Hans zerbricht seinen Bleistift (einen Bleistift der Kanzlei Scholting, von Giersberg, Grüben, Schulz und Altmann!) bei Gericht, weil er etwas kaputt machen will. Da er keinen weiteren Bleistift hat und nicht ganz bei der Sache ist, unterbricht der Richter die Verhandlung, um ihm bei der Suche nach einem Stift behilflich zu sein. Die Gegenpartei leiht ihm einen Stift, den er prompt zerbricht, was doch einige Irritation auslöst.
Schon diese absurde Anfangsszene, in der man nicht genau weiß, ob man lachen oder, wegen der inneren Not von Hans, dessen Verzweiflung sehr deutlich dargestellt wird, ihn bedauern soll, zeigt, in welche Richtung uns der Roman führen wird. Die Irrwitzigkeit der Situationen zeigt sich in deren absoluter Normalität. Der Leser sieht, wie lächerlich doch der Alltag sein kann.
Hans hat Probleme mit seiner Frau Ellen. Diese innere Wut muss raus. Sex wäre auch eine Hilfe, doch Ellen mag nicht mehr mit ihm schlafen:
„‚Ich sehe dir auch ins Gesicht.‘ ‚Nein, das tust du nur, wenn wir streiten, ansonsten starrst du mir auf meinen Po und meine Brüste. Du unterhältst dich sogar mit denen anstatt mit mir.‘ Das war natürlich nicht sehr nett, dennoch musste Hans grinsen. Sie hatte diesen ausgeprägten Sinn für Ironie schon immer gehabt, früher hatte sie ihn damit ständig zum Lachen gebracht. Und das tat sie auch jetzt noch ab und an. Manchmal sogar, wenn sie diskutierten, so wie jetzt.“
Masha ist 39 und Hans‘ Schwester. Sie sehnt sich nach einem Familienleben und einem Kind. Doch so langsam wird sie zu alt. Doch ein Partner ist nicht in Sicht, den Freund, den sie hat, kann sie bald nicht mehr riechen und verlässt ihn.
Alexander und Barbara sind die Eltern von Hans und Masha. Beide sind in Rente und wohnen in einer kleinen Wohnung in Frankfurt. Alexander ist immer um Barbara herum und lässt sie nicht alleine, Freunde oder Bekannte haben sie nicht viele, wenn dann über sie. Barbara geht die Fürsorge und das Um-sie-herumschwänzeln ihres Mannes auf die Nerven und so flüchtet sie öfters in den Schlaf oder in den Keller.
„An Sylvester öffneten sie eine Flasche Sekt und aßen Weißbrot mit geräuchertem Lachs. ‚Bin ich froh, dass wir jetzt nicht bei der Hotelgala sind.‘, sagte Alexander, Barbara nickt. Andererseits war Sylvester ein weiteres Mal in ihrem ereignisarmen Leben so fad, dass sie es vorgezogen hätte zu schlafen.“
Alle vier Personen bewegen sich immer am Rande des Abgrundes und man fragt sich als Leser, wann denn dieser Absturz kommt.
„Er hatte einmal gelesen, dass es schweigende Erdbeben gab. Innerhalb von Wochen verschieben sich ganze Landschaften um mehrere Zentimeter, das Sediment wandert so langsam, dass man keine Erschütterung spürt. Erst seit es GPS-Systeme gibt, die es messen können, weiß man davon. Und ohne sich dessen bewusst zu sein, wartete er auf die große Erschütterung, darauf, dass alles einstürzte.“
So verfolge ich, teils atemlos und Seiten verschlingend, wie dieser schmale Grat aus normalen Dialogen und Situationen sich ganz schnell in aberwitzige und merkwürdige groteske Gegebenheiten wandelt. Und so langsam schält sich auch heraus, was denn diese eine, so verändernde Begebenheit war. Da, wo sich alles in die falsche Richtung bewegt hat.
Das Debüt von Sonja Heiss ist eine echte Überraschung und Entdeckung des Jahres. Das Buch ist bitterkomisch und das Lachen bleibt einem oft im Halse stecken. In vielen Dialogen und Personen wird sich der ein oder andere wieder finden. Bei den Dialogen spürt man die Professionalität der Autorin, die vom Film kommt. So schön wurden die Neurosen und Befindlichkeiten einer Familie lange nicht mehr dargestellt. Klinisch kühl von außen betrachtet, aber dennoch nahe an den Figuren bleibend. Ein Höhepunkt des Jahres 2017.
Buchdetails:
- Aktuelle Ausgabe : 17. August 2017
- Verlag : Kiepenheuer & Witsch
- ISBN: 978-3-462-05044-8
- Gebunden: 400 Seiten
Das wollte ich auch soeben schreiben 👍
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Sehr cooles Cover!
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