Vibrierende Geschichten

978-3-88897-700-8“ … Vielleicht bestehen die Dinge ja nicht aus Strings, sondern aus Geschichten, einer Unzahl winziger, vibrierender Geschichten, einst waren sie alle Teil einer großen, gigantischen Supergeschichte, bloß dass die in eine Zillion verschiedener Teile zerbrochen ist, deswegen ergibt keine Geschichte für sich einen Sinn, und deswegen musst du in deinem Leben versuchen, sie wieder zusammenzuweben, meine Geschichte in deine Geschichte, unsere Geschichten in die all der anderen Menschen, die wir kennen, bis du was hast, was für Gott oder sonst wen wie ein Buchstabe aussieht, oder sogar wie ein ganzes Wort …“

Und genau das tut Paul Murray in Skippy stirbt!: Er webt Geschichten zu einer einzigen Supergeschichte. Ob diese für irgendjemanden einen Buchstaben oder gar ein Wort ergibt, kommt darauf an, wie weit man sich als Leser darauf einlässt. Ich habe mich darauf eingelassen – zugegeben nach anfänglichen Zweifeln – und erkannte schlussendlich weit mehr als nur ein Wort.

Bevölkert werden die drei Bände – Hopeland, Heartland, Ghostland – von den unterschiedlichsten Personen. Hier findet sich alles. Vom ehemaligen Seabrook Rugbychampion, der durch einen Unfall seiner Karriere beraubt, jetzt in seiner alten Schule Lehrer und Schwimmtrainer ist, bis zu Ruprecht van Doren, Skippys Zimmergenossen und übergewichtigen Freund, Mathematikass, genial, nach fremdem Leben im All suchend. Eins haben alle gemeinsam: Sprachlosigkeit und die damit einhergehende Unfähigkeit zur tiefer gehenden Kommunikation. Von pubertierenden Jungs kann man eine solche Fähigkeit nicht verlangen, sie sind zu sehr mit sich selbst und den Veränderungen in ihrem Umfeld beschäftigt. Noch dazu, wenn sie damit durch die offensichtlich komplett überforderten, nur vermeintlich erwachsenen Menschen um sie herum alleine gelassen werden. Ohne Ausnahme hat hier jeder sein Päckchen zu tragen.

So bunt das Personal, so vielfältig die Themen, die in diese Supergeschichte eingewoben werden. Die Komplexität wächst mit den Geschichten, wie es eben so ist. Nichts ist linear, alles ist miteinander verbunden.

Aber hoppla, kommt mir das alles nicht bekannt vor? Was macht dieser Murray da eigentlich? Manche Dialoge sind so locker und leicht und dabei genau ausformuliert, dass sie als Schablone für viele alltägliche Gespräche herhalten könnten und manchmal bleibt mir dabei das Lachen im Halse stecken, weil ich mal wieder erkenne, wie trostlos das alles eigentlich ist. Trostlos aber nur dann, wenn man nicht die Hoffnung hat, dass hinter all den Äußerlichkeiten und Fassaden mehr stecken kann, dass wir einfach genauer hinsehen und dichter dran bleiben müssen, dass wir alle eins sind, dass unsere Geschichten miteinander verwoben sind, ob wir wollen oder nicht. Und diese Hoffnung gibt uns Murray, nicht wie erwartet in Hopeland, sondern erst in Ghostland, als Skippy längst gestorben und trotzdem noch präsent ist.

Was die Aufmachung angeht: Leider ist die Ausgabe mit den drei wunderschön im Retrolook gestalteten Bänden im stabilen Schuber, die sich so gut in meinem Regal machen, nicht mehr lieferbar. Aber ich hoffe sehr, dass in der jetzt einbändigen Ausgabe das Lesezeichen, das ein Who is Who der wichtigsten Personen der Supergeschichte ist und mit dem der Antje Kunstmann Verlag wieder einmal das Tüpfelchen auf das I gesetzt hat, immer noch beiliegt.

Ich freue mich sehr auf das im August ebenfalls im Antje Kunstmann Verlag erscheinende neue Buch von Paul Murray und habe deshalb Skippy stirbt! noch einmal gelesen. Es hat nichts von seiner Faszination verloren und besitzt deshalb ganz zu Recht einen Stammplatz in meiner immerwährenden Liste der absoluten Must-Reads. Wer eine zweite Meinung einholen möchte, kann das hier, denn Rallus und Thursdaynext haben diesen speziellen Stoff auch gelesen.

Unbedingte Leseempfehlung, an alle, die gut erzählte Geschichten mögen und die genügend Empathie besitzen, das anstrengende Leben Pubertierender ertragen zu können. Ein Buch, das wieder einmal klar macht, wie groß die Kluft zwischen der vermeintlichen Erwachsenenwelt und der Lebensrealität Heranwachsender sein kann.

Buchdetails

  • Erscheinungsdatum: Januar 2011
  • Verlag : Antje Kunstmann
  • ISBN: 978-3-88897-700-8
  • Einbändige Ausgabe 782 Seiten

2 Gedanken zu “Vibrierende Geschichten

  1. Also ich fand es großartig – aber wie gesagt, man muss sich darauf einlassen. Und es sind Teenies …

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  2. Hatte ich schon ad acta gelegt, werde ich aber nun noch einmal ansehen. Wenn ich es dann wieder beiseite legen muss, weil es mich nicht anspricht, gebe ich die Bücher gerne weiter…

    Gefällt 1 Person

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