Slava kam als Kind mit seiner Familie über Umwege aus Weißrussland nach Amerika. Eine Genehmigung für eine problemlose Ausreise gab es ausnahmslos für Israel. Amerika war nur über mehrere europäische Stationen erreichbar. Im Gegensatz zu seiner Familie versucht Slava seine Herkunft aus dem Gedächtnis und damit aus seinem Leben so weit wie möglich herauszuhalten.Zwar wohnen alle Familienmitglieder in New York, doch trennen Slava und seine Eltern und Großeltern mittlerweile Welten.
Während seine Familie ihr weißrussich-jüdischen Wurzeln eher pflegt, führt Slava ein amerikanisches Leben. Er arbeitet als Jungredakteur, im Grunde möchte er aber mehr als die „zum Piepen“ benannte Kolumne füttern, die Stilblüten anderer Zeitungen kommentiert. Eigentlich fühlt er sich als Schriftsteller. Kurz nach dem Tod seiner Großmutter, die als junge Frau im Minsker Ghetto lebte, trifft ein Brief der „Konferenz für jüdische Schadensersatzansprüche gegen Deutschland“ ein. Da die eigentlich zu entschädigende Person keine Ansprüche mehr geltend machen kann, hat der erfinderische und clevere Großvater eine Idee: Auch wenn Großmutter Sofias Schicksal nicht ganz den Voraussetzungen entspricht, die gegeben sein müssen, um eine Entschädigung zu erlangen, so hätte sie doch nach humanen Maßstäben jedes Recht auf eine Zahlung. Slava will sich Geschichten ausdenken? Hier bekommt er die Gelegenheit. Zunächst soll er nur für den Großvater einen Antrag „aufhübschen“, doch dabei bleibt es nicht …
Boris Fishmans Geschichte um den leicht betrügerisch veranlagten Großvater, der seinen Enkel zur Fälschung anstiftet, liest sich zunächst witzig, locker und unterhaltsam. Doch nach einem rasanten Einstieg gerät die Lektüre – analog zu den Lebensumständen des Hauptprotagonisten – ein wenig ins Schlingern. Slava wird zwischen den unterschiedlichen Personenkreisen, zwischen den verschiedenen Lebenswelten hin und her geworfen – seinem Innenleben ist das nicht eben zuträglich und der Leser sieht sich mit einer Reihe von Personen konfrontiert, die teilweise kurz auf der Bühne des Geschehens erscheinen, um rasch wieder zu entschwinden. Die Darstellung einer bestimmten Lebensweise scheint dieses Vorgehen zu erfordern, verwirrt aber leider ein wenig. Wohin die Reise gehen mag, die so zügig in eine Richtung zeigte, ist zunächst fraglich. Auch das kann spannend sein, gewisse Bezüge aber muss man sich erarbeiten. Glücklicherweise enthält der Roman einen kurzen Anhang, der Anspielungen erklärt, die man als nicht aus dem russischen Kulturkreis stammender Mensch, nicht eben parat haben muss. Die Struktur des Roman, die sich Fishman gewählt hat, steht ganz offensichtlich in der Tradition der großen russischen Erzähler.
Dennoch gelingt es sowohl Slava als aus dem Leser aus der Verwirrung wieder aufzutauchen. Das Spiel mit Lüge und Wahrheit bringt ihn seiner Familie wieder näher. Dabei entdeckt er etwas ganz wesentliches für sein weiteres Leben: die Vergangenheit gehört zum Leben. Wie Fishman seinen Hauptprotagonisten diese Erkenntnis finden lässt ist durchaus beachtenswert. Denn obwohl Slava seine Großmutter geliebt hat, hat er sie nie nach ihren Erlebnissen während des Zweiten Weltkrieges befragt. Wie in vielen Familien wurden diese prägenden Erlebnisse verschwiegen, um ein neues Leben beginnen zu können. Doch letztendlich ist dieses Schweigen ein Fehler – auch wenn die Erinnerung schmerzhaft ist – beraubt es die Nachkommen doch einer Facette von Identifikation von Verständnis, die wichtig ist, um einen eigenen Platz zu finden. Glücklicherweise stellt Fishman Slava aber einen äußerst pragmatischen und gewieften Großvater an die Seite, der den Enkel nur allzu gerne in die eigene kulturelle Enklave in Brooklyn zurück holen möchte. Ob es ihm gelingt? Das sollte sich jeder selbst erlesen. Eine besondere Beziehung zwischen Enkel und Großmutter, die das Versäumte nicht ungeschehen machen kann, aber dennoch versöhnlich stimmt, bildet ein denkbar gutes Ende, das nicht unbedingt ein glückliches sein muss. Aber lest selbst.
Buchdetails
- Aktuelle Ausgabe : 02. November 2015
- Verlag : Blessing
- ISBN: 978-3-89667-551-4
- Gebunden: 384 Seiten
Auf jeden Fall – das Buch ist nicht nur sprachlich großartig, wie ich finde, sondern auch konzeptionell … bin gespannt, wie Du es finden wirst …, das musst Du mir berichten. LG
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Ha ha ha, ich hatte schon angefangen, zu googeln, der hatte mir nämlich nichts gesagt! „Das Sandkorn“ klingt unheimlich gut und wenn du sagst, die Sprache stimmt … Dann setzt ich das Buch mal auf meine Liste für „gleich, bald, so schnell wie möglich“! Danke!
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Kann ich komplett nachvollziehen – mich kriegt man mit Sprache auch sofort rum. Dann würde ich wirklich empfehlen dieses Buch auf die Liste für die Zeiten zu setzen, in denen man es etwas gemächlicher oder leichter braucht. Aber wenn Du so auf Sprache abfährst 😉 dann empfehle ich Dir dringendst: Christoph Poschenrieder. Das ist ein wahrer Genuß.
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Ich bin aber so ein auf Sprache verbissener Leser … Bin da leider sehr pingelig. Aber wie gesagt, einfach „nur“ flott tut manchmal auch gut 😉
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Gerne – es liest sich flott. Wenn ich sage überragend dann denke ich an Poschenrieders Sandkorn oder Fitzgerald. Also … das Buch ist durchaus gut geschrieben … nur fehlte mir ein wenig die Atmosphäre ein wenig. Aber vllt. kannst Du irgendwo mal reinlesen … der Anfang ist sehr flott 😉
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Schade. Aber ich setze das Buch mal auf die Liste von Büchern, die man mal lesen kann, wenn man krank ist oder einen Overload hat. Danke für die Antwort 🙂
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Nicht ganz einfach zu sagen;) Leicht lesbar, aber nicht flach. Die Figur des Großvaters ist der englischen Sprache nich wirklich mächtig, deshalb verdreht sich hier die Satzstellung manchmal, was recht charmant rüberkommt. Also durchaus ansprechend, aber nicht absolut herausragend …
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Schon allein das Cover lässt ja neugierig werden! Wie ist es denn sprachlich?
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