Wie sehr verbunden sind wir Menschen miteinander? Oder vielmehr wie sehr verbunden können wir miteinander sein?
Es gibt Theorien, die behaupten, es gäbe so etwas wie ein kollektives Gedächtnis, was darauf schließen ließe, dass wir alle miteinander verbunden sind. Auf Gedeih und Verderb, ob wir es wollen oder nicht. Andere Theorien – vor allem die der Existentialisten – bemängeln die Auffassung, dass der Mensch von vornherein durch bestimmte Annahmen beschränkt sei und gehen davon aus, dass er sich nur durch sein eigenes Erleben verstehen kann. Somit gibt es keine kosmologische oder göttliche Ordnung und Menschsein bedeutet in diesem Fall ein Einzel-Dasein.
Cassandra und Judith sind Zwillinge. Äußerlich gleichen sie sich, wie es bei Zwillingen häufig der Fall ist – sogar sehr. Doch in ihrem Wesen sind sie durchaus verschieden. Ihre Eltern – die Mutter Schriftstellerin und leider bereits verstorben, der Vater ein ehemaliger Philosophieprofessor mit einer Vorliebe für Five-Star-Hennessy und einer Abneigung gegen einzuhaltende Termine – versuchen, diese Unterschiedlichkeit auch äußerlich zu unterstützen. Gran – die Großmutter – jedoch spürt, dass die beiden Mädchen sehr stark miteinander verbunden sind und wünscht sich, dass das auch äußerlich sichtbar wird.
Die Familie selbst schottet sich nach außen hin ab – ob bewußt oder nicht, das ist nicht wichtig. Sie genügt sich eben selbst. Die einzelnen Familienmitglieder sind durchweg kluge Persönlichkeiten – eine Gemeinschaft außergewöhnlicher Menschen, in deren Kreis des Vertrauens man nur mit Mühe aufgenommen wird …
Dass der Name Dorothy Baker kaum einem Leser in Deutschland bisher etwas sagen dürfte, ist mehr als schade. Doch das wird sich durch die Wiederentdeckung in ihrem Heimatland und die längst überfällige Neuveröffentlichung ihres großartigen Romans Zwei Schwestern – der Originaltitel lautet Cassandra at the wedding – hoffentlich ändern.
Denn Dorothy Baker zeichnet ihre Figuren so lebendig, dass die Lektüre zu einer atemlosen Reise wird, mitten hinein in diese außergewöhnliche Familie. Die Figur der Cassandra war für mich die herausragendste: Exzentrisch bis exaltiert, überaus klug, snobistisch, elitär denkend und in keiner Weise selbstsicher, was ihre Fähigkeiten angeht, besitzt sie trotz ihres nicht sonderlich sympathischen Wesens eine solche Strahlkraft, dass man sich ihr nicht entziehen kann. Eigentlich ist sie ein wahres It-Girl. Sie hat das gewisse Etwas, ohne dass man benennen könnte, was das ist. Sie ist egoistisch und versucht, ihrer Schwester ein individuelles Leben auszureden. Die Verbindung, die sie zu ihr spürt, ist für sie so einzigartig, dass sie sich ohne die ruhigere, gefälligere, nettere Judith nur als halbes Wesen fühlt. Und dennoch bezaubert sie jeden, der sie kennenlernt. So auch mich.
Was Cassandra an Intellektualität im Übermaß besitzt, geht Judith ein wenig ab. Nicht, dass sie einfältig oder naiv wäre – nein, eher pragmatisch und offen für andere Menschen ist sie. Und damit begibt sie sich in Cassandras Augen in die Niederungen der Normalsterblichen und verkauft sich und ihre Talente unter Wert. Dass Judith sich in einen MANN und noch dazu in einen gewöhnlichen verlieben konnte, ist ihr unbegreiflich.
Nicht nur die Dialoge zwischen Judith und Cassandra sind großartig entwickelt und das heißt in diesem Fall auch wieder großartig ins Deutsche übertragen. Die flirrende Hitze, der sich kühl ergießende Wasserstrahl, die Mondnacht, die die beiden Schwestern Cognac trinkend am heimischen Pool verbringen – all das kann man förmlich spüren, sehen, atmen.
Und nebenbei werden existenzielle Themen behandelt: Was ist der tatsächliche Sinn des Lebens? Wie definiert man Identität und wodurch ist sie zu erlangen? Wo stellt sich wahre Liebe ein und wie kann man sie erkennen? Immer ohne zu sehr ins Dramatische oder Schwere abzugleiten. Unglaublich leicht und geschickt miteinander verstrickt und trotzdem nie an der Oberfläche bleibend, sondern so existentiell – das ist zeitlos und berührt genau deshalb auch heute noch so sehr wie vor über 50 Jahren.
Ob wir Menschen nun hineingeworfen sind in unser Leben und eine wahre Verbindung zwischen uns nie möglich sein wird oder ob wir vielmehr alle miteinander verbunden und eins sind, auch wenn wir uns nicht zur selben Zeit am selben Ort befinden – welcher Theorie man zustimmen mag, das ist eine individuelle Entscheidung. Die Lektüre dieses vielschichtigen, klugen und warmherzigen Romans jedoch ist keine Entscheidung, sondern ein MUSS!
Nach Stoner von John Williams nun die Zwei Schwestern von Dorothy Baker – so kann es weitergehen … ein großer Dank geht an die Verlage, die solche verschütteten Juwelen wieder heben!
Buchdetails
- Aktuelle Ausgabe : 22. September 2015 (Erstausgabe)
- Verlag : dtv
- ISBN: 978-3-423-28059-4
- Gebunden, 280 Seiten