Zonengabi im Pott

Als sich der Autor eines Tages – nicht mehr ganz nüchtern – mit seinen Freunden in Berlin traf, sagte sein Kumpel Schlüppi, der diesen Spitznamen einer sehr unglücklichen Begebenheit aus seiner längst vergangenen Zeit bei der Nationalen Volksarmee verdankt, zu ihm: „Du musst in den Westen.“ Genauer gesagt soll Sander in den „Osten im Westen„, so nämlich wird Gelsenkirchen auch bezeichnet, da es sich tatsächlich bei der Heimat des Fußvallvereins Schalke 04 zum einen um die finanzschwächste Stadt Deutschlands handelt, sie aber zum anderen auch die AfD-Hochburg Westdeutschlands ist.

Für einen neugierigen Journalisten Stoff genug, sich das alles mal genauer anzusehen – und so reist Gregor Sander aus seiner Wahlheimat Berlin ins Ruhrgebiet.

Spannend und interessant trifft es wohl am besten, wenn man nach Ausdrücken sucht, um dieses ehemals so florierende Gebiet zu beschreiben, dessen Landschaften durch den Bergbau gekennzeichnet sind, auch lange, nachdem die letzte Zeche stillgelegt wurde. Klassisch schön? – Weit gefehlt! Hässlich und von der Welt vergessen? – Ebenfalls weit gefehlt!

Manche Städte im Ruhrgebiet haben es geschafft, sich neu zu erfinden, den Bergbau und die damit verbundenen Gebäude hipp und trendig zu machen. Kunst und Freizeitkommerz sind eingezogen in Flächen, auf denen früher malocht wurde und an denen keiner an Spaß und Müßiggang denken konnte. Vergangenheit und Gegenwart sind im besten Fall eine gelungene Symbiose eingegangen. Doch in manchen Städten sind die nett gedachten Konzepte nicht aufgegangen und trübe Betonfassaden vermitteln ein tristes Ambiente. In Innenstädten, in denen sich Handyreparaturläden an 1-Euro-Shops reihen, kommt keine heimelige Wohlfühlstimmung auf. Wo Fußgängerzonen 50 Prozent Leerstand haben, bleiben irgendwann auch die Fußgänger aus.

Doch Sander ist professionell genug, sachlich und neutral loszuziehen, sich alles genau anzuschauen. Er schafft es, Klischees außen vor zu lassen und sich der Realität zu stellen. Er spricht mit Einheimischen, wundert sich, wenn diese ihren Blick schweifen lassen von einem aufgeschütteten Müllberg mit industrieller Landmark aus über Fabrikschlote, halbverfallene Hallen, marode Stadtteile, die immer wieder von bemerkenswert vielen Grünanlagen aufgelockert werden und dann glückselig seufzen: „Hömma, wat is dat schön hier!“

Er schaut sich Kleingartenanlagen an, lüftet den Mythos „Trinkhalle„, geht in eine echte Fußballkneipe auf Schalke, er unterhält sich mit der in Albanien geborenen Co-Fraktionsvorsitzenden der AfD in Gelsenkirchen, die ihren Namen nicht im Zusammenhang mit diesem Buch sehen möchte, daher nenne ich ihn in dieser Rezension auch nicht, obwohl ich Herrn Sander recht geben muss, dass es nicht mal zwei Minuten (ich war sogar weit unter einer Minute!) braucht, um mit den Suchbegriffen „Frau, Gelsenkirchen, AfD“ fündig zu werden, um zu erfahren, mit wem der Autor sich in der Eisdiele „Graziella“ traf … Er versucht zu verstehen, was diese Frau in dieser Partei sucht – und offensichtlich findet.

Er wohnt bei Zonengabi, die es in den Westen verschlagen hat, angeblich die Zonengabi, die vor Jahren mit der Gurke auf der Titelseite einer bekannten deutschen Satirezeitung prankte – Fiktion? Wahrheit? Egal! Sie lebt mit Ömer zusammen, dessen Eltern aus der Türkei kamen und der in zweiter Generation eine Trinkhalle führt.

All diese Begegnungen, Begebenheiten, Gespräche und Beobachtungen gießt Sander in wunderbare Sprache. Bilder entstehen im Kopf, alles wird haptisch durch seine Worte. Wenn er die Gelsenkirchener reden lässt, ist man mitten drin im Pott und das Herz geht einem auf. Denn die Menschen sind freundlich, bescheiden, fleißig – und doch bricht einem beim nächsten Gedanken das Herz, denn die Probleme in dieser konjunkturschwachen Ecke Deutschlands sind noch lange nicht gelöst.

Das Ruhrgebiet aus Sicht eines Ostdeutschen – ein erhellendes Buch des Journalisten Gregor Sander. Klug, amüsant, aber auch desillusionierend.

„Lenin auf Schalke“ von Gregor Sander ist 2022 im Penguin Verlag als Hardcover erschienen. Informationen zum Titel und dem Verlag durch einen Doppelklick auf das Buchcover oder den Verlagsnamen.

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