Die Lebensgeschichte des Slowenen Andrej Kokot ist historisch wichtig und vom Inhalt her sehr spannend, denn es sollte bei all dem Gedenken an den Holocaust zusätzlich nicht vergessen werden, dass vor allem die österreichischen Nazis nicht nur die Juden sondern auch Sinti, Roma und die slowenischen Minderheiten in Arbeitslagern und teilweise in Konzentrationslagern entsorgt haben. Diese furchtbare Behandlung von anderen Minderheiten wird sehr oft bei der wichtigen Erinnerung an den Mord an der jüdischen Bevölkerung vergessen und total ausgeblendet.
Im Gegenteil, vielen dieser Minderheiten wird noch heute ihr Opferstatus aberkannt und ihre Sprache und Kultur wird und wurde bis in die heutige Zeit zum Beispiel in Kärnten noch immer sehr subtil unterdrückt. Insofern ist der leidige Ortstafelstreit (Kärnten weigerte sich bis 2011 in den Minderheitengebieten zweisprachige Ortstafeln Deutsch und Slowenisch aufzustellen), der zudem gegen die österreichische Verfassung verstieß, ein widerlicher brauner Schandfleck in unserer Geschichte, denn so darf man mit Minoritäten nicht umgehen, zumal die Slowenen auch dafür verantwortlich waren, dass Österreich überhaupt 1955 den Staatsvertrag als neutrales Land bekommen hat. Österreich musste nämlich auch bewaffneten Widerstand gegen Hitler nachweisen, um Souveränität zu erhalten, und nur die slowenischen und kroatischen Bevölkerungsgruppen in den südlichen Bundesländern Österreichs haben als Partisanen gegen die Nazis gekämpft, der Rest hat gejubelt und mitgemacht.
In diesem Zeitzeugenbericht wird geschildert, wie die Familie Kokot 1938 von ihrem Bauernhof in Kärnten vertrieben und in ein Arbeitslager deportiert wird, genauso wie die Juden in Viehwaggons, weil sie Slowenisch sprechen. In mehreren Lagern in Rehnitz und Rastatt werden die Jugendlichen und Erwachsenen zu unterschiedlichster Zwangsarbeit verpflichtet, die kleinen Kinder werden beaufsichtigt von NSV-Schwestern überwacht, aber weitestgehend im Lager sich selbst überlassen, keine Schule, kein Ausgang, quasi Kindergefängnis.
In diesem Setting lebt der kleine Andrej und kann nicht fassen, warum die Familie ihr Zuhause verlassen musste und warum er jeden Tag hungrig ins Bett gehen muss. In einem ging es den Slowenen aber doch eine längere Zeit besser als den Juden: Sie wurden als Familien relativ lange nicht voneinander getrennt und aus diesem Grund erlebt der kleine Andrej auch eine unter den Umständen doch recht glückliche Kindheit, weil er bei all den Ungerechtigkeiten der Lagerleiter und im Lager doch noch auf die Geborgenheit in seiner Familie zählen konnte. Fast kann man die Lager für die Slowenen mit dem jüdischen Lager Theresienstadt vergleichen, dort wurde auch noch musiziert und gesungen. Der ältere Bruder von Andrej wird gegen Ende ins Konzentrationslager Mauthausen gesteckt, weil er mit russischen Kriegsgefangenen gesprochen hat. Dort stirbt er auch im Herbst 1944. Auch andere der slowenischen Vertriebenen werden oft ohne Grund abgeführt und sterben letztendlich im KZ.
Am Ende des Krieges hat ein Großteil der Familie Kokot überlebt und kommt ins Heimatdorf zurück, wo sich der Nachbar das Haus und die ganze Einrichtung unter den Nagel gerissen hat. Die Vertriebenen werden als Störfaktor und Täter gemobbt. Eine wahnwitzige Täter-Opfer-Umkehr hat nach dem Zweiten Weltkrieg in diesen ländlichen Gegenden stattgefunden, denn die Nachbarn wollen die arisierten Vermögenswerte nicht zurückgeben und tun so, als ob ihnen ihr wohlverdientes Hab und Gut von den Rückkehrern gestohlen wird. Als Andrej in einem Schulaufsatz mit dem Thema „Ein bedeutender Tag in meinem Leben“ von seiner Vertreibung schreibt, benotet der Lehrer ihn wegen Themenverfehlung mit Nichtgenügend, obwohl er zugibt, dass der Aufsatz gut geschrieben ist. Er fügt hinzu, dass wir über diese Zeit nicht nachdenken, sondern sie vergessen sollen.
Im Finale des Buches begibt sich der pensionierte Andrej Kokot mit seiner Schwester recht spät auf die Spuren seiner Vergangenheit, die er lange verdrängt hat und besucht Lager um Lager, Station um Station.
Familienfotos und Fotos aus den Lagern runden die Geschichte ab und machen sie noch plastischer und realistischer.
Ein riesiges Problem hatte ich aber bedauerlicherweise mit diesem Zeitzeugenbericht. Auch wenn der Ausgangspunkt und der Anstoß zum Buch ein Schulaufsatz von Andrej Kokot war, ist der Umstand, dass das ganze biografische Werk im Stil eines Kindes geschrieben wurde, sehr enttäuschend für mich gewesen. Diese sprachliche Simplifikation des gesamten Textes, erschloss sich für mich nicht, zumal der Autor anerkannter Lyriker und Schriftsteller ist. Diesen einfachen Stil hat er ja auch beibehalten und durchgezogen, als er dann schon pensioniert war und auf den Spuren seiner Jugend wandelte.
Fazit: Inhaltlich sehr wertvoll, sprachlich sehr enttäuschend.
Das Kind, das ich war von Andrej Kokot ist 2020 im Wieser Verlag als Hardcover im Rahmen der Reihe Slowenische Bibliothek erschienen. Nähere Infos zum Buch über einen Klick auf das Cover im Beitrag oder auf der Verlagsseite.
@christahartwig Stimme Dir total zu, wobei in ganz seltenen Fällen passt diese Kindersichtweise, wenn sie richtig gut gemacht ist. Habe letztes Jahr 2 Romane gelesen, in denen das total glaubwürdig rübergebracht wurde: 1. Raum von Emma Donogue und 2. Das Muschelessen von Birgit Vanderbeke. Das sind aber die Ausnahmen
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Eine schwierige und interessante Frage: In welchem Stil sollten Kindheitserinnerungen geschrieben sein. Erinnert man (also auch ein Schriftsteller) sich daran, wie man als Kind gesprochen hat? Meine Kindersprache kenne ich eher nur aus Zitaten, aus später von Eltern und Großeltern Erzähltem. Egal, wie klar manche Erinnerungen sind, ist die Sprache, mit der ich sie schildern würde, erwachsen geworden. Die Kindersprache, vom Erwachsenen angewandt, ist etwas Künstliches. – Übrigens stört mich solche Sprache auch in manchen Kinderbüchern. – Davon abgesehen, historisch ein sicher interessantes und zudem menschlich sehr berührendes Buch. Leider gehöre auch ich zu denen, denen ein mir gegen den Strich gehender Stil alles verleiden kann.
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