Wie makaber können wir Menschen eigentlich sein? Da wird ein Dorf geflutet, der Kirchturm schaut noch aus dem durch die Flutung entstandenen See heraus – und was passiert? Die Touristen kommen, fotografieren diese Tragödie und marschieren weiter auf ihrer Wanderung, als wäre nichts gewesen. Cooles Fotomotiv, was interessiert mich das, was dahintersteckt?
Aber dann, wendet der Zyniker (oder Realist?) ein, müsstest du auch über jedes durch den Braunkohleabbau verschwundene Dorf weinen. Ja, richtig! Das tu ich auch! Wir haben mal Freunde am Niederrhein besucht, die uns sogenannte Geisterdörfer gezeigt haben, es war UNERTRÄGLICH!
Nun gut, aber kommen wir zum eigentlichen Thema zurück: Südtirol, Vinschgau, Graun. Das Dorf, das im Dreiländereck Schweiz-Österreich-Italien liegt. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts gibt es durch die österreichische Monarchie Pläne und Überlegungen, einen Stausee anzulegen und das Dorf Graun und Teile des Dorfes Reschen zu fluten. Später ist es die faschistische Regierung unter dem Duce, die das Thema vorantreibt, nachdem die Vinschgauregion Italien zugeordnet wird. In Orten, in denen Deutsch die Muttersprache war, gibt es plötzlich nur noch Aushänge und Ansagen auf Italienisch – die Bauern haben keine Ahnung, was vor sich geht. Sie sind auf das Wissen und die Gutmütigkeit anderer angewiesen, die ihnen mit ein paar Brocken Italienisch weiterhelfen und bruchstückhaft übersetzen. Immer wieder kommt den Machthabern was dazwischen, aber das Thema bleibt an der Oberfläche, taucht nie ab. Mal müssen die Männer in den Krieg ziehen und es sind keine Arbeiter da, doch die Bedrohung, dass das Dorf geflutet werden könnte, bleibt unterschwellig vorhanden.
Marco Balzano erzählt in „Ich bleibe hier“ die reale Geschichte des Dorfes Graun anhand der fiktiven Protagonistin Trina, die jedoch ein wenig Anklänge ans „Schworza Trinali“ hat, eine Frau, die in Graun lebte, Köchin war und viele Bücher und Zeitschriften in ihrem Haus gesammelt hatte – sie war für den Ort eine Art „Bücherei“. (Mehr dazu habe ich im Internet hier gefunden: http://www.schule.suedtirol.it/gs-mals1/gs-graun/seestau/seestauung1a.htm).
Auch „unsere“ Trina liest viel und gern und will, wie ihre beiden engsten Freundinnen, Lehrerin werden. Die Mädchen können zwar nicht an die Pädagogische Hochschule gehen, um dort dem Unterricht zu folgen, da diese zu weit entfernt vom Ort ist, doch sie lernen zu Hause und gehen einmal im Jahr nach Bozen, um dort an der Hochschule die Prüfungen abzulegen. So büffeln sie für das Lehrerinnendiplom – doch Mussolini krempelt das Schulsystem um, als deutschsprachige Nicht-Italienerin hat man wenige Chancen auf eine Anstellung. Also beginnen die cleveren Mädchen, parallel auch noch Italienisch zu paucken. Sie schaffen das Diplom, doch eine Stelle bekommt keine von ihnen.
Südtirol ändert sich, das merkt auch Trina. Der Duce schickt immer mehr Zuwanderer in diese Region und so wird tatsächlich nur noch auf Italienisch unterrichtet. Sie alle im Vinschgau werden vor die Wahl gestellt: Bleiben und schlecht behandelt werden oder nach Deutschland gehen und sich Hitler unterordnen. Viele verlassen das Dorf aus Angst, doch einige bleiben.
Im Untergrund gärt es, der Pfarrer bittet um die aktive Mithilfe der jungen Mädels – sie sollten doch die Bauerskinder in Katakomben auf Deutsch unterrichten. Eine der dreien, Barbara, lehnt sofort ab, Maja und Trina jedoch wollen es wagen. Trina wird erwischt, kommt eine Nacht ins Gefängnis, dem Vater werden die Schnurrbarthaare ausgerissen – doch seine Unterstützung ist ihr danach weiterhin sicher – mehr denn je! Trina macht all das auch, um die Aufmerksamkeit des einzigen Mannes am Ort zu erheischen, der sie interessiert: der rebellische, schweigsame Erich, der oft bei ihrem Vater zu Besuch ist und zu dem sich Trina hingezogen fühlt.
Trina und Maja machen weiter und eines Tages überredet Trina auch Barbara – doch die wird sofort nach Aufnahme ihrer illegalen Lehrtätigkeit von den Carabinieri erwischt und weggezerrt. Sie soll nach Lipari in die Verbannung kommen. Maja und Trina sind schockiert – machen aber weiter. Endlich kommt Trina auch Erich näher, als dieser sich bei einer Aktion der Bauern gegen die Staudammplanungen engagiert und mit dem Schlagstock malträtiert wird. Sie säubert seine Wunden und Papa spielt ein wenig Amor – und so kommen die beiden zusammen. Wenig spektakulär, die Werbung um die Braut, aber immerhin – sie hat, was sie will 😉
Erich und Trina heiraten, ziehen in sein Haus und Trina bringt überall neuen Wind herein. Rasch wird sie schwanger, zuerst kommt Michael, später dann die Tochter Marcia. Während der Bub körperlich aktiv ist, ist das Mädchen mehr fürs Geistige zu haben. Marcia durstet nach Wissen, Michael verweigert vorpubertär den Schulbesuch. Die Schwägerin Anita mit ihrem Mann Lorenz haben an der klugen Marcia einen Narren gefressen, oft isst sie dort, denn die beiden haben mehr Geld, können besseres Essen organisieren. Eines Tages geschieht etwas Unfassbares, was das Leben der kleinen Familie um Erich und Trina für immer verändert – aber ich will nicht spoilern!
Der Krieg kommt und schließlich wird auch Erich eingezogen – wie viele Frauen muss Trina nun ihren Mann stehen, den Hof bewirtschaften, sich ums Vieh kümmern. Doch sie hat Glück, Erich überlebt und kommt zurück – doch Krach ist vorprogrammiert, denn Sohnemann Michael will nun selbst losziehen in den Krieg und das auch noch auf Seiten der deutschen Nazis. Er meldet sich freiwillig – der Haussegen hängt schief, denn Erich kennt die Front, das Leben weg von zu Hause – und vor allem will er nie mehr selbst kämpfen.
Trina und er fliehen. Es wird beschwerlich und hart, sie gehen in die Berge, nahe der Schweizer Grenze, müssen harte Zeiten verbringen, während der Rest der Familie – außer Michael – zu Trinas Bruder in die Stadt flieht. Es sind beängstigende Momente, oft verhungern sie fast, jeden Tag ist ein Kampf um Leben und Tod – doch sie leben lang genug, um das Kriegsende mitzubekommen und können sich wieder ins Dorf nach Graun zurücktrauen.
Und nun setzt eigentlich erst der Kampf gegen das Wasser ein. Denn nun, nachdem der Krieg vorbei ist, kommen die Pläne für die Umsetzung des Stausees wieder ans Tageslicht und werden plötzlich in rasantem Tempo umgesetzt. Und es gibt vor allem einen, der keine Ruhe gibt im Kampf gegen das Projekt: Erich Hauser. Er will keine Baracke als Übergangswohnheim, keine Ersatzländereien – er will bleiben. Treu an seiner Seite kämpft Trina.
Daher könnte man dem U4-Text Ungenauigkeit vorwerfen, denn, auch wenn es die ganze Zeit um das Dorf Graun und seine Bewohner, allen voran Erich und Trina, geht, ist es doch viel mehr als nur ein Bericht über die Katastrophe, die da am Ende wartet. Der Roman ist viel mehr. Er beginnt viel früher, überdauert die ganze Kriegszeit, in der der Stausee-Plan kaum noch von Interesse war, und behandelt nur im letzten Drittel des Buches die Flutungsthematik.
„Ich bleibe hier“ ist ein besonderes Buch, ein rebellisches und politisches Manifest. Eine Hommage ans Aufstehen, ans Sich-nichts-gefallen-lassen. Eine mitreißende Story, in wunderbar unprätentiösem Stil verfasst und voller gut recherchierter Fakten – ich kann diese Südtirol-Lektüre jedem nur ans Herz legen.
Ich bleibe hier von Marco Balzano ist 2020 im Diogenes Verlag erschienen. Weitere Infos zum Titel und Verlag über Klick auf das Buchcover oder den Verlagsnamen.