Dies wird eine Liebeserklärung – aber wo soll ich beginnen?
Als alter Martin-Suter-Fan stolperte ich letztes Jahr über die Ankündung von „Song Book“ im Diogenes-Newsletter. Doch ganz ehrlich: Schwiizerdütsche Lieder eingespielt von einem mir völlig fremden Herrn, mit irgendwelchen frei erfundenen Geschichten zu ihrer Entstehung in einem schmalen Bändchen vereint – puh! Das klang für mich mehr nach Folter als nach spannender Lektüre.
Kurz darauf flatterte ein Newsletter der hiesigen Laeiszhalle herein und ich stolperte schon wieder über Herrn Suter und sein Song Book. Ich musste schmunzeln: Jetzt gehen die beiden älteren Herren tatsächlich mit diesem Projekt auf Tour – lustig! Das nötigte mir Respekt ab, offensichtlich meinten sie es ernst. Vielleicht war es wirklich ein Herzensprojekt? Kurzum, ich beschloss die Gunst der Stunde zu nutzen und kaufte Karten – wann kann man sonst seinen erklärten Lieblingsautor live erleben bei einem wirklich außergewöhnlich klingenden Projekt?
Doch dann kam die sehr kurzfristige Absage der Konzertagentur, der Event wurde krankheitsbedingt gecancelt, die Karten behielten ihre Gültigkeit. Lange hörte ich nichts mehr vom Anbieter, ich hatte das Konzert schon fast vergessen, da ploppte eine Mail in meinem Postfach auf, dass der neue Termin drei Tage nach meinem Geburtstag nachgeholt werden würde. Ich gebe zu: Ich war ein wenig lustlos. Vom Feierwochenende noch leicht übermüdet, nervte mich der Gedanke an diesen Termin mitten in der Woche. Dann bot mir auch noch jemand Karten für Grönemeyer in München just für diesen Abend an und ich erinnerte mich an eine wenig begeisterte Kritik zum „Song-Book-Event“, die ich mal gelesen hatte. Die Zeichen standen nicht gut. Aber man ist ja träge. Außerdem freute sich mein Mann ja so auf diesen Überraschungsevent, der ja noch viel spannender geworden war durch die Tatsache, dass er verschoben wurde. Er ahnte ja nicht, dass ich innerlich schon zitterte ob des Gedankens an behäbig vorgetragene Schweizer Mundart …
Ursprünglich für den großen Saal der Laeiszhalle angekündigt, bemerkte ich mit vielen anderen in der Kälte vor den Türen Wartenden erst 30 Minuten vor Beginn, dass das Konzert im Zuge der zeitlichen Verschiebung offensichtlich auch größenmäßig eingedampft worden war – man geleitete uns zum hinteren Eingang des kleineren, wenig spektakulären Saales. Als ich meine Jacke abgab, schrieb mir mein Mann: „Schaffe es wegen Stau nicht auf 20 Uhr, bitte hinterlege meine Karte an Abendkasse.“ Was für ein absurder Abend, noch bevor er losging!
Es wurde 20 Uhr, mein Mann kam und wenig später auch die Herren Eicher und Suter.
Was dann geschah, war nicht mehr und nicht weniger als ein emotionales Erdbeben in mir. Quasi augenblicklich, als der mir bis dato unbekannte Stephan Eicher die Bühne betrat, hatte er mich schon eingefangen mit seinem unglaublichen Charisma. Die Bandmitglieder kamen und schließlich Martin Suter, der Gentleman der Buchbranche. Suter brauchte ein wenig, um in Fahrt zu kommen. Er ist, das hätte ich aufgrund seines Autorenbildes nie geahnt, ein sehr zurückhaltender, bescheidener Herr – seine Bühnenpräsenz benötigte etwas Zeit, um sich aufzuplustern. Doch als Eicher mit „Spil no eis“ (Spiel noch eins) loslegte, war ich schockverliebt! Warum um alles in der Welt hatte ich trotz Verwandschaft in der Schweiz nie bemerkt, wie poetisch diese Sprache klingen kann? Diese Musik, diese Stimme, diese Sprache – wow! (Anderes Lied, gleiche Stimme – Stephan Eicher zum Kennenlernen und Süchtigwerden: https://www.srf.ch/radio-srf-3/musik/de-song-vom-tag/de-song-vom-tag-stephan-eicher-martin-suter-driissg-jahr.)
Von nun an ging es im Wechsel zwischen Suter und Eicher hin und her. Während Suter bei Wasser und Rotwein auf Hochdeutsch mit leichter Schwiizer Klangfarbe die komplett erfundenen, aber durchaus plausibel klingenden Entstehungsgeschichten zu den Liedern vortrug, erweckte Eicher teetrinkend die von Suter auf Schwiizerdütsch und Bärndütsch (Berndeutsch) verfasste Lyrik musikalisch zum Leben. Und wie! Noch nie habe ich Poetischeres, Schöneres gehört! Es scheint die perfekte Symbiose aus Suters Worten, Eichers unfassbar schöner Stimme und dieser umwerfenden Schweizer Sprache zu sein, die dieses grandiose Gesamtpaket so unvergleichlich macht.
Nicht nur mir geht es so – das gesamte Publikum des kleinen Saals sitzt wie gebannt und lauscht den fremden, fantastischen Klängen. Links und rechts der Bühne hängen Monitore, die die Texte auf Hochdeutsch zeigen, damit auch der bemerkenswerte Inhalt der Lieder nicht verloren geht. Man hört, man liest, man schaut – ein Konzert, das alle Sinne bedient. Und dann packt Suter auch noch die Mundharmonika aus. Ein Traum!
Am Ende ist klar, das „Song Book“ muss gekauft werden – ein Leben ohne diese Musik scheint nicht mehr vorstellbar zu sein. Und – ich übertreibe nicht – tatsächlich schaffe ich es seit einer Woche nicht, andere Musik zu hören. Alles andere käme mir vor wie Betrug oder Fremdgehen! Nachdem ich nach zwei Abenden allmählich wieder aus der Schockstarre erwache, wage ich es, mir auch das Buch näher anzuschauen. Dabei zeigt sich, dass Suter nicht alle, aber die meisten Texte im Konzert vorgelesen hat und nichts davon aus dem Stegreif kam, sondern alles exakt so im Buch steht. Dass der Vortrag dennoch so spritzig und spontan wirkte, verdeutlicht nur, welch hohe Qualität die Texte, sei es die Lyrik, sei es die Prosa, haben. Sie beschreiben alles, was das Leben so hergibt: Liebe, Frust, Streit, Freundschaft und Alltägliches.
Wenn man sich das bibliophil gestaltete Buch mit dem minimalistischen und doch stimmungsvollen Cover anschaut, die überwältigende CD anhört und das wunderbare Konzert vor Augen hat, wundert einen nicht, mit welchem Ausmaß an Begeisterung dieses Projekt bereits honoriert wurde:
Chapeau, meine Herren!
Mein Buchstoff-Höhepunkt 2019 kann nicht mehr getoppt werden nach diesem meisterhaften Rundumschlag der Herren Suter und Eicher. Und es ist ja nicht nur ein Buch, es ist ein Buch mit CD! Und ich hatte als eine von wenigen Hamburgern (denn der kleine Saal der Laeiszhalle war noch nicht mal ausverkauft!!!) das unendliche Glück den dazugehörigen Bühnen-Event zu sehen – ein Ausnahme-Erlebnis, das ich in meinem Herzen fest verschlossen habe und nie vergessen werde. Ich danke Ihnen, Herr Eicher und Herr Suter!
„Song Book“ von Stephan Eicher und Martin Suter ist am 1. September 2017 im Diogenes Verlag erschienen. Weitere Informationen zum Buch (mit CD) über Klick auf das im Beitrag abgebildete Cover oder auf der Verlagsseite.
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Liebe Schweizer Verwandtschaft! Fantastisch! Ihr lest mich 🙂 🙂 🙂 Danke für die lieben Worte und die Mail 😉
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Lesend alles verstanden – wäre es gesprochen, wärs wohl schwieriger 😉 LG in die Schweiz
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En tolle Briecht! Ich has zwar nöd eso mit Literatur und bi drum no nie an ere Lesig vom Martin Suter gsi, aber d‘ Konzert vom Stephan Eicher sind scho immer genial gsi.
Ich hoffe alle haben es verstanden :-). Liebe Grüsse an „daslesendesatzzeichen“ von der Schweizer Verwandtschaft
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😍
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Wunderbar, Brigitte! Und ich danke Dir von Herzen für den Tipp mit dem Kölner Konzert 👌💕
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Übrigens: der Abend in Köln wurde aufgezeichnet und wird am 21.04. ausgestrahlt – WDR5 – kann man online hören und WDR stellt auch einen Radiorecorder zur Verfügung damit kann man die Sendung auch aufzeichnen 🙂
https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/spezial/stephan-eicher-martin-suter-106.html
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Ja, wie cool. Solche Verbindungen machen noch besser klar, dass wir Kunst in all ihren Spielarten einfach brauchen. LG
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Merci für diese Liebeserklärung – wie wohltuend 🙂 Und wie kann ich das nachempfinden… so erging es mir vor vielen vielen Jahren bei der Entdeckung von Herrn Eicher bei seiner Taxi Europa Tour. Und bei mir umgekehrt – habe ich Martin Suter durch ihn entdeckt …
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Wie meinen? 😉 🙂
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Chon cher chlastig,
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Ich werde hören😊
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Thurs, hör rein, das ist der Hammer! Sehr ruhig, nachdenklich, mit hintergründigem Witz. Frag mal, wie SCHRECKLICH ich Schwyzerdütsch fand, aber … That evening changed me forever 😆
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Schweizerdeutsch wohlklingend und poetisch?! Cool, da muss ich mal reinhören und ich hätte gern den gleichen Drink dazu, den du getrunken hast *G* Im Ernst nach dieser Rezi will man reinhören 🙂
Ich habe ja die Theorie, dass Events auf die mensch am termin wenig Lust hat meist top sind und die Vorfreude, die Latte so hoch setzt, dass der Übersprung schwierig wird.
Bin gespannt, mit ner guten Bluesharp kann man mich auch glücklich machen. Liebe Grüße
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