Alle Gefühle, die wir im Laufe unseres Lebens erleben, sind meist flüchtig und bleiben nicht andauernd präsent. Das würde der Mensch auch auf Dauer nicht aushalten. Vergessen oder Verdrängen sind auch wichtige Eigenschaften, um schlechte Gefühle, Gedanken oder Erlebnisse zu verarbeiten. Doch halt! Da gibt es ja noch das Gefühl, das alles andere überstrahlt. Die Liebe. Doch so haltbar Liebe auch sein mag, sie ist doch auch ein ganzes Stück Arbeit. Sich einlassen, sich dem anderen nähern, sich selbst zu öffnen – es auch wirklich zu wollen. Dabei spielen nicht nur die reinen Gefühle eine Rolle, sondern irgendwann auch die Überlegungen an die Gemeinsamkeiten, die Zukunft, die Gestaltung des Alltags. Und sobald Probleme auftauchen, kommt wieder das Wollen ins Spiel. Sich nicht von den negativen Gefühlen überwältigen lassen, der Kopf muss die Arbeit übernehmen.
Das hört sich so einfach an, kann aber eine ständige Achterbahnfahrt sein. Auf dieser Achterbahn befindet sich bei Tim Parks neuem Werk der Ich-Erzähler – der ungläubige Thomas. Thomas? Moment, da war doch was. Richtig! Im letzten Buch von Tim Parks, nachzulesen hier, wird das langsame Auseinanderleben einer Ehe dargestellt, ein Buch das schmerzhaft und sezierend den Niedergang einer Liebe beschreibt. Und auch dort heißt der, sich in detailreichen Einzelheiten verlierende, Protagonist Thomas.
Und irgendwie ist es auch eine Fortsetzung des vorherigen Buchs, eine chronologische auf jeden Fall, und auch das Thema ist dasselbe, es geht um die Liebe. Dass es eine Liebe gibt, um die es sich kämpfen lohnt, die die Grundlage aller Bestrebungen ist, die Basis zu der Thomas in all seinen wirren Gedanken zurückkehrt. Das vorliegende Buch ist, im Vergleich zum letzten, skurriler, lustiger, trotz des Titels (In Extremis: Im Sterben liegend).
Thomas Mutter liegt im Sterben und Thomas erfährt gerade davon, als er auf einem Vortrag über die neueste Form einer Analmassage ist. Er erfährt die Massage am eigenen Leib und reist mit schrecklichen Unterleibsschmerzen und Problemen beim Wasser lassen nach England an das Sterbebett seiner Mutter. Im Handgepäck der Analmassagestab, der seine Leiden heilen soll.
„Ob meine Blase kurz vor dem Platzen stand, ich aber dennoch kein Wasser lassen konnte, weil sie hoffnungslos verkalkt war, oder ob sie im Gegenteil bis zum letzten Tropfen leer gepresst war, aber dennoch Wasser abzulassen versuchte, das gar nicht da war, womöglich aufgrund einer unglückseligen Überproduktion von Adrenalin – ich habe keine Ahnung. Das Ergebnis ist mir schleierhaft. Da hat man einen Körper und kann nicht einmal sagen, ob mehr reingeht als rauskommt, oder umgekehrt. Ganz zu schweigen von dem, was ständig im Gehirn ein und aus und herumgeht. Wie dem auch sein, von allen Toiletten besuchen an diesem Tag war der zehnte mit Abstand der erbärmlichste.“
Schon bei der Sicherheitskontrolle konnte ich beim Lesen nur mühsam ein Lachen unterdrücken. Die bildliche Vorstellung, wie Thomas den Sicherheitsbeamten erklären will, wie der Massagestab funktioniert, ist köstlich. Auf dem Weg zu seiner Mutter reflektiert er die letzten Jahre und Monate mit seiner Ehefrau, seinen Kindern, den Auszug aus Edinburgh, die Flucht nach Madrid, zu seiner jugendlichen neuen Liebe. Doch war sein Weg richtig?
„Das Telefon klingelte jetzt. Klebte an meinem Ohr. In Madrid. Dass es eine Liebe gebe. Das ist der Moment, zu dem ich zurückkehre, wenn mich Panik überfällt, wenn ich anfange zu denken, dass ich alles falsch gemacht habe, dass ich nie von zu Hause hätte weggehen dürfen, dass ich wieder in unserer hübschen Doppelhaushälfte in Edinburgh sitzen sollte, gut geschützt unter den winterlichen Ästen und den immergrünen Sträuchen, hinter den sorgfältig zugezogenen Vorhängen. Que haya un amor.“
Die vielen verschlungenen Gedankenwindungen des Hauptprotagonisten werden durch die äußeren Ereignisse immer wieder gestört. Sei es, dass er das Hospiz nicht findet, in dem seine Mutter liegt, oder dass er in die Eheprobleme seines besten Freundes hineingerät und sich von dessen Sohn eine Abreibung abholt, meist jedoch versucht er dieses schwierige Wasserlassen in den Griff zu bekommen. So kommt er nie zur Ruhe, sein Gedankenapparat ist meist in heller Aufregung, doch wird das Buch durch die skurrilen Einfälle von Tim Parks nie so bleiern schwer wie bei Thomas & Mary. Ein Endfünfziger, der auf der Suche nach seinem Weg ist.
Gerade am Sterbebett seiner Mutter fallen ihm viele Erlebnisse seiner Kindheit ein und sein Verhältnis zu seiner Familie und Religion. Auch die Szene, als seine Mutter im Scrabble aus dem ‚LECK‘ ein ‚UNBEFLECKT‘ legt – mit dreifachem Wortwert. Die Religion ist auch beim Spiel die höhere Macht.
„Solange mein Bruder nicht kam, ging das Leben weiter. Sein Nichterscheinen würde meine Mutter am Leben halten. Seine transkontinentalen Anrufe. Was ist denn das Leben letztendlich, oder auch die Ehe, wenn nicht ein endloses Leugnen? Die Wahrheit ist tödlich. Jedenfalls, dachte ich, war die Wahrheit tödlich für meine Ehe gewesen.“
Der ungläubige Thomas ist eine herrlich komische und gleichzeitig tragische Figur in Tim Parks neuestem Roman. Trotz aller komischen Elemente besticht das Buch auch durch die genauen reflektierenden Gedanken des Protagonisten, die einen so manches Mal über das eigenen Leben nachdenken lassen. Ein süß-saures Buch über das Leben und die Liebe, mit einer klaren Leseempfehlung von mir.
In Extremis von Tim Parks ist 2018 im Verlag Antje Kunstmann als gebundene Ausgabe erschienen. Nähere Infos zum Buch über einen Klick auf das Cover im Beitrag oder auf der Verlagsseite.
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