Dieser außergewöhnliche, recht gute und sehr kurze Roman von Zsuzsa Selyem handelt von der Vertreibung und Folter der ungarisch-stämmigen, ehemals wohlhabenden rumänischen Familie Beczásy vom zweiten Weltkrieg bis zum Jahr 1989. Leider hat die Geschichte für mich persönlich nicht ganz so gut funktioniert, da ich aus mangelnden historischen Kenntnissen des Landes und der Lage die vielen indirekten und vagen Andeutungen nicht alle verstehen konnte. Ein Kenner dieser geschichtlichen Hintergründe würde aber sicher begeistert sein. Fast könnte man meinen, die Zensur säße der Autorin noch immer im Nacken, so verklausuliert werden die historischen Ereignisse kommentiert und im Roman angesprochen.
Selbstverständlich habe ich mich redlich bemüht, meine Wissenslücken über Google und Wikipedia aufzufüllen, dennoch wurde ich bei vielen dieser indirekten Verweise und Allegorien einfach nicht fündig. So wird beispielsweise auch die Geschichte und die Gerüchte über Ana Pauker, die angeblich ihren Ehemann auf dem Gewissen hat, im Web auch nicht näher erläutert, obwohl natürlich Hinweise existieren. Wie literarisch verklausuliert die historischen Ereignisse im Roman beschrieben werden, zeigt folgendes Beispiel von Tschernobyl, das zumindest jeder in meiner Generation im deutschsprachigen Kulturkreis aus dem Gedächtnis ohne zu Hilfenahme von Lexika identifizieren kann.
Noch ein bisschen Knattern, Melodie, satter Sprecher, dass sowjetisches Atomkraftwerk fertig ist, soi-disant eine Errungenschaft, das sagt der sozialistische Sprecher. Erbärmlich jeden Errungenschaft, für ein paar Jahre Natur besiegt, dann hat sie alles zurückgenommen, dabei sterben Kinder von Strahlung, schicken sie heldenhafte Liquidatoren hin, auch sie sterben von Strahlung …
(Die Orthografiefehler sind der Rolle der Figur geschuldet und passen in diesem Fall punktgenau.)
Jetzt stellt Euch mal die Situation vor, die historischen Ereignisse und deren Ablauf überhaupt nicht genau zu kennen, und keine Erläuterungen oder klare Anhaltspunkte zu bekommen, welches Ereignis denn gemeint ist, dann wisst Ihr, wie ich mich oft gefühlt habe. Als wäre ich in einer Community, in der alle dieselben Bücher gelesen haben, von denen ich keinen blassen Schimmer habe. Alle reden in Andeutungen und ich verstehe meist nur Bahnhof. Fast ist es, wie einen Nostradamus-Text zu interpretieren, man könnte auch etwas ganz anderes herauslesen. Im Klappentext – und nur dort – werden die politischen Fakten aber so glasklar angesprochen, dass man auch als deutschsprachiger Leser zumindest weiß, was gemeint ist. Ihr könnt Euch meine Überforderung mit diesem Werk nun ungefähr ein bisschen vorstellen, die aber nichts über die Güte des Textes aussagt.
Im Gegenteil, manchmal konnte ich diesen außergewöhnlichen Stil richtig genießen. Ein weiterer innovativer interessanter Ansatz der Autorin ist der Umstand, dass die Geschichte der Familie Beczásy von Schleiereulen, Amseln, Bäumen, Hunden, Katzen, Schmeißfliegen, Eichhörnchen … erzählt wird. In jedem Kapitel erzählt ein anderes anwesendes Tier bzw. Lebewesen die Geschichte der Familie, bringt somit die Familienchronik voran und analysiert so en passant auch die anwesenden Menschen ethnologisch inklusive der politischen Situation. Am ärgsten war die Szene mit den Bettwanzen, die die Folter von Beczásy durch die Securitate kommentieren, das ist nicht nur innovativ, sondern schafft auch zudem noch einen notwendigen Abstand zum Protagonisten, um das Grausame besser ertragen zu können. Die letzte Szene mit dem Eichhörnchenzirkus ist eine der abgedrehtesten Allegorien, die ich jemals gelesen habe und soll möglicherweise – aber vielleicht missinterpretiere ich ja auch – den Tod des Diktators Nicolae Ceaușescu darstellen.
Fazit: Ein guter innovativer Roman, der für mich auf Grund meiner dürftigen Kenntnisse der historisch-politischen Fakten einfach ein bisschen zu wenig funktioniert hat. Ich bin mir sicher, Kenner des Landes und der Geschichte werden restlos begeistert sein. z.B. Peter Nádas, der den Roman sehr lobt und die persönlichen Visionen der Autorin als „unsere fürchterliche gemeinsame Geschichte“ bezeichnet. Trotzdem war der Roman auch für mich nicht unspannend und herausfordernd. Ich bin froh, dass ich auch manchmal ein Werk aus einem kleinen Verlag rezipieren darf, das völlig abseits des literarischen Mainstream agiert.
Regen in Moskau von Zsuzsa Selyem ist 2018 im Nischenverlag in Hardcover-Ausgabe erschienen. Nähere Infos zum Buch über einen Klick auf das Cover im Beitrag oder auf der Verlagsseite.