Jaron Lanier ist für mich einer der bestechendsten Denker des neuen Jahrtausends. Als Internetpionier, der von Beginn an involviert war und Begriffe wie VR (Virtual Reality) und Avatar geprägt hat. Die Encyclopedia Britannica bezeichnet ihn als einen der dreihundert wichtigsten Erfinder der Geschichte. Er ist Baujahr 1960, dachte also schon länger, als ich ihn kenne, denn erst 2014 durch den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels habe ich zum ersten Mal etwas von ihm gelesen. Seine damalige Rede bewog mich, „Wem gehört die Zukunft“ zu lesen und danach hatte ich ihn im Fokus. Als Mutter bin ich, wie alle Eltern, dazu gezwungen, mich mit (mittlerweile nicht mehr ganz so neuen) Medien und ihrem Einfluss auf die Kinder auseinanderzusetzen. Meine Söhne sind mit dem ganzen Kram völlig selbstverständlich großgeworden, so bleibt es nicht aus, sich damit zu beschäftigen womit sie sich umgeben und kritisch zu hinterfragen und dazu anzuregen.
Lanier ist glücklicherweise nicht nur ein bestechender Denker, und eloquenter Redner, er versteht es auch, sich kurz und verständlich zu äußern und verfügt über die Art von Humor, die ich sehr schätze. Dabei ist „Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst“ nur 201 Seiten stark, liest sich angenehm flüssig weg, trotz des provokanten Titels und des wirklich heftigen Inhalts.
Heftig, weil er, der Cyberguru, in diesem dünnen Büchlein nachvollziehbar erläutert, weshalb er diese Aussage sehr ernst meint. Aus soziologischer, psychologischer und allgemein wissenschaftlicher Sicht beleuchtet er die Auswirkungen von Social Media auf unsere Gesellschaft, die Welt, die Demokratie, die Politik und die Gehirne der Menschen – und was sich dabei offenbart, ist nur fatal zu nennen.
Es lohnt sich, sich mit seinen Thesen, die er fast durchweg durch Studien und sein breitgefächertes Wissen belegt, auseinanderzusetzen.
Nach der „Einleitung mit Katzen“ legt er direkt los mit den einzelnen Gründen und betreibt Ursachenforschung, weshalb Social Media den freien Willen kassiert, Bummer ist, einen zum Arschloch macht, die Wahrheit untergräbt, die Meinungsäußerung bedeutungslos macht, das Mitgefühl tötet, unglücklich macht, prekäre Arbeitsverhältnisse fördert, Politik verunmöglicht und weshalb Social Media die Seele des Menschen hasst.
Wer sich unwohl fühlt mit den derzeitigen Verhältnissen, das System in Frage stellt, den Rechtsruck und die tumben Tyrannen und Diktatoren verabscheut die sich neuerdings immer ungenierter und widerwärtiger die Macht aneignen und gerne etwas über die Hintergründe erfahren möchte, wie es unter anderem dazu kommen konnte, kann sich in vielen Publikationen informieren oder nur dieses eine Buch lesen. Es genügt. Leider hatte ich es nur in meiner Stabi ausgeliehen, aber es wird demnächst noch in meiner Bibliothek an präsenter Stelle dauerhaft einziehen.
Danach kann man dann wieder von freiem Willen sprechen und sich entscheiden, was man mit diesem Infomaterial anfängt.
Ein Must Read, und das wichtigste Buch des Jahres! Go get it.
Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst ist im Juni 2018 bei Hoffmann & Campe erschienen. Weitere Informationen über einen Klick auf das im Beitrag abgebildete Cover oder auf der Verlagsseite.
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Danke.
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Das sind sie, da hätte ich mich genauer ausdrücken sollen. Lanier bezieht sich allerdings nur auf das Netz und dessen Potential. Ich habe es mir z.B. abgewöhnt die Kommentare auf Spon oder Zeit oder taz zu lesen. Lanier hat mir eine erschreckende, bedenkliche Sicht eröffnet.
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Danke für diese Empfehlung.
Was das Thema angeht: Beim Gesichtsbuch bin ich nicht. Sind unsere Blogs und Tageszeitungen oder Rundfunkprogramme nicht auch soziale Medien?
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