„Das war Mill Valley: Ein Traum, erdacht, um Achtjährige glücklich zu machen. Hätte man Nick erzählt, seine eigene Kindheit sei ein Traum gewesen, hätte er es womöglich geglaubt. All die gewaltigen Mammutbäume. Der nach Wald duftende Himmel. Der Berg, der am Ende der Miller Avenue aufragte, die baumbestandenen Zerklüftungen von perlmuttfarbenem Dunst verschleiert oder sein dunkles Blaugrün unter Wattewolken. Die reichen Hippies, die entlang der ein Dreieck bildenden Avenues paradierten und sich auf die Schulter klopften, weil sie sich zusätzlich zu ihrem Range Rover noch einen Prius angeschafft hatten und ihre überteuerten Bioorangen bei Wholefoods kauften. Und all die Kids, die glaubten, das wäre das Leben. Und solche wie Tristan Bloch …“
Tristan Bloch ist Achtklässler und einer, der als Außenseiter gilt. Er entspricht keiner Norm und kann niemanden wirklich einen Freund nennen. Der klassische Außenseiter schlechthin also – nichts Neues für einen Roman über einige junge Menschen, die in einem idyllisch gelegenen Ort wie Mill Valley / Kalifornien aufwachsen und dabei versuchen, einfach klar zu kommen. Ähnliche Plots gibt es zuhauf – aber gerade deshalb sollte man Der gefährlichste Ort der Welt unbedingt lesen. Denn was Lindsay Lee Johnson aus diesem klassischen Plot macht, ist erstens außergewöhnlich, lässt zweitens einen wahnsinnigen Sog entstehen, der dazu führt, dass man das Buch nicht mehr aus der Hand legen kann, und ist drittens unglaublich klug und versiert umgesetzt.
Doch zunächst zu Tristan: Seiner Außenseiter-Freak-Rolle sicher, scheut er sich dennoch nicht, tief empfundene Gefühle gegenüber seiner Klassenkameradin Cally – Kurzform für Calista – in Briefform mitzuteilen. Heranwachsende sind zuweilen nicht nur gemein, sondern grausam und so zeigt Cally den Brief zunächst ihrer besten Freundin. Gemeinsam machen sie sich über die eigentlich äußerst mutige Aktion lustig und gehen sogar noch einen Schritt weiter, indem sie Ryan Harbinger, erklärter Mädchenschwarm der Schule und Callys „was auch immer“, einbeziehen. Er soll Tristan klar machen, dass dieser bei Cally keine Chancen hat.
In Zeiten, als es weder Internet noch Facebook gab, liefen solche Demütigungen und Verletzungen zwar anders ab als heute, gegeben hat es sie aber schon immer. Wohl ebenso häufig wie heutzutage, aber weniger öffentlich. Die Abfuhr über Ryan wird schnell zu einer allgemeinen, weil öffentlich geführten, Demütigung par excellence, gekrönt durch den Vertrauensbruch von Cally, die zwar offiziell nicht auftaucht im Chat, aber die allgemeine Kenntnis des Briefwortlautes spricht Bände. Den letzten Stoß allerdings führt Cally inkognito unter dem Namen ihrer Freundin. Feige tritt sie noch nicht einmal hier persönlich in Erscheinung – macht sie das Spiel nur mit, weil sie Angst davor hat, ebenso ausgegrenzt zu werden wie Tristan, hat aber gleichzeitig etwas in seinem Brief entdeckt, was sie anspricht? Denn Tristan hat die Gabe, hinter die schöne Fassade zu sehen und kratzt an der Oberfläche.
Man kann es sich denken: Der Junge fällt schlussendlich eine Entscheidung, die er als unausweichlich betrachtet. Er möchte einfach verschwinden, unsichtbar werden. Was diese Entscheidung mit den anderen macht, zeigt Lindsay Lee Johnson auf beeindruckende Weise. Wie die Glieder einer Kette lässt sie die einzelnen Geschichten der jungen Beteiligten nacheinander ineinander greifen, bis das letzte Kettenglied am ersten angelangt und der Kreis geschlossen ist. Dabei wird eines ganz deutlich: Wer das „Opfer“ wird, entscheidet der Zufall, denn in einem gewissen Alter fühlt sich jeder Mensch an bestimmten Stellen unsicher, während die anderen diese Stellen nur zu leicht entdecken und damit jeden zur Zielscheibe machen können: jeden, ohne Ausnahme. Vor allem aber dann, wenn wir in einer vermeintlich perfekten Welt leben, in der etwas fehlt: wahre Aufmerksamkeit.
Was jedem der einzelnen Protagonisten in Mill Valley fehlt, sind Personen, die sich tatsächlich für deren Gedanken interessieren, wissen wollen, was sie sich wünschen, erträumen oder wovor sie Angst haben. Eben echte Bezugspersonen, keine überfürsorglichen Mütter, keine abwesenden oder in Konkurrenz tretenden Väter.
Lindsay Lee Johnson sagte in einem Interview, sie habe sich für jede ihrer Figuren einen Prototyp gegriffen und darum herum eine individuelle Geschichte verfasst. Daraus ist Erstaunliches entstanden. Charaktere, die zwar einem gewissen Schema entsprechen, durch die Diskrepanz zwischen äußerer Wahrnehmung und innerem Empfinden beziehungsweise eigenem Rollenverhalten und wahrer Identität unglaublich plastisch und einfach echt wirken. Sie alle versuchen nur eines: klar zu kommen, den Kopf über Wasser zu halten.
Während der Lektüre dieses fabelhaften Romans, der für mich ein absolutes Lesehighlight nicht nur in diesem Bücherherbst darstellt und eine zweiwöchige Nach-Leseflaute auslöste, hatte ich immer einen bestimmten Song im Ohr. Wie Hozier in Sedated singt, so scheinen sich die Protagonisten bei Lindsay Lee Johnson durchweg zu fühlen:
Any way to distract and sedate
Adding shadows to the walls of the caveYou and I nursing on a poison that never stung
Our teeth and lungs are lined with the scum of it
Some whiff of this, death and guts
We are deaf, we are numb
Free and young and we can feel none of itSomething isn’t right, babe
I keep catching little words but the meaning’s thin
I’m somewhere outside my life, babe
I keep scratching but somehow I can’t get in
So we’re slaves to any semblance of touch
Lord we should quit but we love it too much
Obwohl das alles nicht gerade erfreulich wirkt und mich als Mutter eines vorpubertierenden Sohnes nachdenklich stimmt – oder vielleicht gerade deshalb – war es unglaublich spannend und ergreifend, mitzuerleben, welche Wege sich den jungen Menschen öffnen würden.
Stilistisch außerordentlich geschickt lässt Lindsay Lee Johnson Leerstellen in den einzelnen Geschichten zu, die jedoch später aus anderer, zusätzlicher Perspektive nicht nur gefüllt, sondern füllend erweitert werden. Alles greift ineinander, wie in einem perfekt funktionierenden Mechanismus. Und obwohl sicherlich nicht alle Protagonisten sympathische Züge tragen, so fühlt man doch mit ihnen, kann ihre Traurigkeit, Unsicherheiten und Einsamkeit, die auch in dieser perfekten Welt existent sind, nachvollziehen. Hier, wo dem Außen so viel Bedeutung zugemessen wird, dass das Innen verkümmert oder gar nicht heranwachsen kann.
Traumata kann man nicht einfach wegpacken. Schon gar nicht für immer. Irgendwann holen sie einen ein. Die Frage, die sich hier tatsächlich stellt, ist, ob man sich dem unangenehmen Prozess des Heranstastens, Annehmens und damit Verarbeitens stellen will und kann und damit seine eigene Geschichte schreibt. Calista schafft es schlussendlich, mit den über Jahre hinweg existenten Schuldgefühlen zu Rande zu kommen. Und auch hier greift Johnson äußerst gekonnt in die stilistische Trickkiste, die ihren Roman nicht nur inhaltlich in einer Art geschlossenem Kreis enden lässt, sondern auch in seiner eigenen Struktur. Die Geschichte, die sie erzählen wollte oder musste hat sie genauso erzählt, wie sie wollte. Und das ist ihr verdammt gut gelungen.
Dieses Buch gehört eindeutig in jedes Bücherregal und ich habe dem Verlag zu danken, der mir schon vorab diese außerordentliche und grandiose Lesefreude verschafft hat.
Buchdetails
- Aktuelle Ausgabe : 13. Oktober 2017
- Verlag : dtv Verlagsgesellschaft
- ISBN: 978-3-423-28133-1
- Gebunden: 304 Seiten
Auch dann wird es auf jeden Fall ein Genuß sein – und Dein Sohn ist ja, wie meiner auch, noch nicht in dem Alter … LG
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Ich hab’s schon auf meiner Liste, werde aber warten, bis das Taschenbuch rauskommt. 🙂
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Cool! Also ehrlich, das Buch hat mich so begeistert!! Ich bin gespannt, wie Du es empfindest, falls Du es lesen wirst. LG, Bri
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Jetzt hast Du mich gepackt und in den Sog mit reingezogen. 🙂
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Oh, schön – ich hoffe, ich habe nicht zu viel verraten … und wünsche erstens einen wunderbaren Urlaub und zweitens gute Lektüre! LG
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Sehr gerne – und keine Eile, hier stapeln sich immer noch Bücher, die nicht mehr in die Regale passen 😉
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Ich freue mich dank Deiner Empfehlung vorab auf diesen Roman. Er wird mich auf meiner Urlaubsreise begleiten. Ich bin sehr gespannt. Viele Grüße nach Berlin
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Und ich bedanke mich bei dir, für’s Ausleihen. Du hast alles gesagt, dem ist nichts hinzuzufügen. Grandioses Buch, perfekt geschrieben. Eines der Bücher, die ich nach dem Lesen kaufe.
Schönes Wochende und THANKS (sorry, nächste Woche geht es zurück)
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