Werden wer man ist

Eine Zeit ist es nun schon her, dass ein Film ins Kino kam, der die Geschichte einer ganz ungewöhnlichen Frau erzählt: Lili Elbe nannte sie sich. Früher war sie Einar Wegener, Maler und mit seiner Frau Gerda (im Buch und Film heißt sie Greta, hier jedoch wird im laufenden ihr realer Name verwendet werden), ebenfalls Malerin, glücklich. Gemeinsam verließen Gerda und Lili 1930 Paris, damit Lili sich in Dresden einiger Operationen unterziehen konnte, um sozusagen eine Trans-Pionierin zu werden. Bald 100 Jahre ist das her und immer noch stecken wir in Geschlechter-Diskussionen fest, die sich um Stereotypen drehen. Da werden Verhaltensweisen in typisch weiblich oder männliche unterteilt, ungeachtet der Tatsache, dass wir eigentlich wissen sollten, dass es das eben nicht wirklich gibt. Aber vielleicht fehlt uns dazu die künstlerische Sichtweise, die Einar/Lili und Gerda hatten. Sie sahen, was noch nicht ist, sondern was sein kann. So entstehen Bilder, Geschichten – Kunst eben.

Einar Wegener und Gerda Gottlieb lernten sich während des Studiums kennen und lieben. Dass die Verbindung auch noch bestehen blieb, als Einar sich langsam aber sicher in Lili verwandelte, zeigt, dass Liebe sich nicht nur geschlechtsspezifisch erklären lässt. Der Mensch und sein ihm eigenes Wesen ist es, der fasziniert. Und wenn man jemanden so sehr liebt, dass man es sogar noch unterstützt, dass aus ihm eine sie werden kann, dann ist das wohl ein Haupttreffer. Für beide Seiten. Wobei in diesem speziellen Fall Gerda nicht ganz „unschuldig“ an der Entwicklung Einars/Lilis war. Bat sie ihn doch, sich für ein Gemälde, das sie zu vollenden hatte, Frauenkleider anzuziehen, weil ihr das Modell fehlte.

Einar empfand immer mehr Gefallen an seiner anderen, seiner wahren Seite und wurde schlußendlich ganz zu Lili. So sehr, dass Lili sich selbst nicht als Künstlerin sah, die Kunst gehörte für sie zu Einar. Oder war sie, ihre Person nun selbst zur Kunst geworden? Bald hundert Jahre ist es her und klingt für uns Leser doch ungewöhnlich, wenn wir fundiert und eingängig davon erfahren dürfen, wie es Einar / Lili wohl in der Phase der Entscheidung und der Ich-Werdung erging.

David Ebershoff selbst hat sich eingehend über Lili Elbe informiert und war fasziniert von ihrer Geschichte. Zu der natürlich auch Gerda gehört – ohne sie hätte sich wohl alles zumindest anders entwickelt. Ebershoff hat aber auch einen Roman geschrieben und keine Biographie und so lesen wir hier die Geschichte der Lili Elbe, wie sie – in den Details – hätte sein mögen. Sprachlich flüssig, seiner Faszination folgend sehr genau und detailreich wurde diese Geschichte. Wer den zu Beginn angesprochenen Film zuerst angesehen hat und danach das Buch liest, wird vielleicht etwas enttäuscht oder verwundert sein. Ebershoff aber gelingt, was einem Film nie so richtig gelingen kann – er lotet das Innerste, das Menschlichste, die Zweifel und das Glück einer Verwandlung wie die des Einar Wegener in Lili Elbe bei den beiden beteiligten Personen – Gerda und Lili – einfühlsam und doch gründlich aus. Und genau deshalb ist dieses Buch unglaublich zeitgemäß und wichtig, weil es wertfrei aufzeigt, dass Liebe seit jeher nichts mit Geschlechterzugehörigkeit zu tun hat.

Buchdetails:

  • Aktuelle Ausgabe : 21. Dezember 2015
  • Verlag : Goldmann
  • ISBN: 978-3-442-47279-6
  • Taschenbuch: 384 Seiten

 

 

5 Gedanken zu “Werden wer man ist

  1. Schöne Besprechung. 🙂

    Ich hatte damals zuerst das Buch gelesen und war – nach riesiger Vorfreude – vom Film enttäuscht, weil ich das Entdeckung von Lili und ihr sukzessives „Erwachen“ und Entwickeln im Buch nachvollziehbarer und eindringlicher fand. Im Film ging mir das doch zu schnell und zu einfach, mir fehlte, wie schwierig diese Situation war, als Lili noch Einar war. Zudem hatte ich mit Gerda in der Verfilmung so meine Probleme. Andere wiederum waren, wie du oben beschreibst, vom Buch enttäuscht, nachdem sie zuerst den Film sahen.

    Buch und Film erzählen Lilis Geschichte eben jeweils auf ihre ganz eigene Weise und so erreichen sie auch die Menschen auf unterschiedliche Weise.

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  2. Wobei das Buch glaube ich schon noch viel weiter geht … den Film kenne ich (noch) nicht … will ihn aber unbedingt sehen, weil ich Eddy Redmayne umwerfend finde.

    Gefällt 1 Person

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