Der Anfang des Fadens

Patrick Kenzie und Angela Gennaro haben sich gerade von ihrer Konfrontation mit der Bostoner Mafia erholt, als ein Freund Kenzies den beiden einen Auftrag anbietet. Die bekannte Bostoner Psychologin Diandra Warren hat eine mysteriöse Nachricht erhalten: ein Foto ihres Sohnes. Nicht mehr, aber es ist klar, dass dieses Foto eine Drohung darstellt, ihrem Sohn etwas anzutun. Weshalb er und damit auch sie in die Schusslinie geraten sind, ist völlig unklar. Genauso wie unklar ist, in wessen Schusslinie. Vermutlich die der Mafia, hatte Warren doch kürzlich Kontakt zur angeblichen Freundin eines Mafiamitglieds, das Patrick Kenzie schon aus Schulzeiten kennt und verabscheut: Kevin Hurlihy. Eine Studentin mit dem Namen Moira Kenzie hatte Warren aufgesucht, um ihre Hilfe zu erbitten. Sie wisse von einem Mord, den Hurlihy begangen habe und als Warren ihrerseits Hilfe bei einem Freund sucht, der Patrick Kenzie als Ermittler empfiehlt, hofft die Psychologin darauf, dass Patrick die Studentin, von der plötzlich jede Spur fehlt, kennt.

Ein Treffen mit den Mafiabossen wird unumgänglich und von Bubba, dem zwielichtigen aber Kenzie und Gennaro gegenüber sehr loyalen Riesen mit Hang zu Waffen ebensolcher Größe, eingefädelt. Schnell ist klar, dass weder Jack Rouse, der Boss von Hurlihy, noch Fat Eddy – Rouses Boss – etwas mit der Angelegenheit zu tun haben wollen. Einzig die bisher selbst Kenzie unbekannte Verbindung von Angela ins Mafiamilieu – ihr Großvater ist einer der Bosse, dem sogar Fat Eddy verpflichtet ist – lässt sie unbeschadet und erhobenen Hauptes das Treffen verlassen. Die Beschattung von Jason Warren ergibt nichts und außer einem regelmäßigen Sexualleben und einem etwas verschämten Treffen mit einem spitzbärtigen Fremden…

Es geht, schrieb er, um den Schmerz. Wie viel davon spüre ich, wie viel teile ich aus.

Er tauchte während des wärmsten, wechselhaftesten Herbstes seit Menschengedenken auf, das Wetter spielte vollkommen verrückt, und alles stand auf dem Kopf, so als würde man in ein Loch im Boden schauen und am Grund Sterne und Sternbilder schweben sehen, und wenn man den Kopf hob, hingen Erde und Bäume am Himmel. So als würde er seine Finger auf den Globus legen, ihm einen Schubs geben und die Welt – zumindest meinen Teil davon in Schwung versetzen.[…]

Es geht, schrieb er, um den Schmerz.

Dennis Lehane geht auch in Band zwei seiner Reihe um das Ermittlerduo Kenzie / Gennaro direkt in die Vollen. 1996 hat er diesen zugegebenermaßen für meine Verhältnisse knallharten, brutalen Krimi bereits verfasst. Doch nun ist  Dunkelheit nimm meine Hand in einer Neuübersetzung im Diogenes Verlag erschienen. Dem Verlag, dem wir Leser es verdanken, dass er einen begnadeten amerikanischen zeitgenössischen Autor ins Rampenlicht brachte. Lehanes Bücher sind schon länger auf dem deutschen Markt zu haben gewesen, doch drangen sie nie so recht in die Öffentlichkeit – weshalb kann ich noch nicht einmal erahnen, denn Lehane hat für mich mittlerweile Kultstatus. Obwohl der vorliegende Krimi, wie gesagt, sein überhaupt zweiter Roman ist und aus dem Jahr 1998 stammt – also beinahe 20 Jahre alt ist – merkt man es ihm an keiner Stelle an. Zeitlos das Setting, treibend die Sprache, dabei stilsicher und eloquent, spannend die Handlung. Kurz gesagt: umwerfend gut. Die Verbindungen, die Lehane hier schafft, zeugen davon, dass hier ein Autor am Werk ist, der weiter blickt, als nur bis zum Ende dieses einen Buches. Seine Figuren besitzen eine plausible Vergangenheit und psychologische Tiefe. Alle. Durch die Bank. Es gibt keine einzige Nebenfigur, die zu einer solchen verkommt. Alle sind sie ausgeklügelt gezeichnet und wirken so echt, vielleicht weil Lehane über seine frühere Tätigkeit als Betreuer von missbrauchten und traumatisierten Kindern vieles über das menschliche Seelenleben erfahren hat. Dass traumatische Erfahrungen nicht einfach abzuschütteln sind, ist uns wohl allen klar. Doch welche Auswirkungen sie haben können, das zeigt uns Lehane schonungslos ehrlich.

Neben dieser meisterlichen Zeichnung seiner Figuren besitzt Lehane noch weitere Stärken: Seine traumwandlerische Sicherheit, was Dialoge angeht und die Qualität seiner Texte, die jederzeit verfilmt werden können, denen man dieses aber nicht anmerkt. Es gibt viele Romane, die gut als Film funktionieren können, weil sie zu unausgefeilt, zu flach konstruiert sind. Ihnen merkt man an, dass sie auf eine Verfilmung hin geschrieben wurden. So etwas liest sich nicht wirklich gut. Lehanes Romane hingegen waren schon häufig die Vorlagen großartig umgesetzter Filme – man denke an Mystic River oder Shutter Island, um nur zwei zu nennen – ohne, dass sie wie solche wirken. Hier stimmt einfach alles. Selbst die härtesten Mörder, die einen Funken Loyalität besitzen – richtig, hier spiele ich auf Bubba an – tragen Züge, die sie irgendwie menschlich erscheinen lassen.

Bubba in dem alten Lagerhaus aufzusuchen, in dem er wohnt, ist ungefähr so, als würde man am Rande einer Klippe Twister spielen. Bubba hat die ersten zwölf Meter des ersten Stocks mit so viel Sprengstoff verdrahtet, dass er damit die Ostküste in die Luft jagen könnte, deshalb muss man seinen Anweisungen buchstabengetreu folgen, wenn man auch in Zukunft ohne künstliche Beatmung weiterleben will. Angie und ich haben diese Prozedur schon unzählige Male hinter uns, trauen unserem Gedächtnis aber nicht genug, um sie ohne Bubbas Hilfe zu bewältigen. Schimpft uns ruhig übervorsichtig.

Dennoch ist klar, was Recht und Unrecht ist. Über 509 durchweg kurzweilige Seiten hinweg verfolgt man als Leser die Ermittlungsarbeit des mir sehr ans Herz gewachsenen Duos – ich gebe zu, ich habe eine Schwäche für Patrick Kenzie entwickelt – und tappt ebenso wie die beiden im Dunkeln. Sie sind dem Leser immer einen knappen Schritt voraus, ohne dass dies dazu führt, die Handlung zu verschleppen oder den Fall langweilig werden zu lassen. Über das Einbringen der alltäglichen Lebensumstände der beiden bekommt man immer genau die Verschnaufpause, die es braucht, um sich dann doch gleich weiter durch die Seiten fräsen zu können.

Wen ich bis jetzt noch nicht überzeugen konnte, sich dieses Ausnahmeautors erstmalig oder erneut anzunehmen, dem ist meiner Meinung nach nicht zu helfen. Denn hier entgeht einem bei Nicht-Lektüre eine Meisterleistung der Spannungsliteratur erster Güte. Und das hat nichts mit irgendwelchen reißerisch betitelten Thrillern zu tun. Denn neben all der Brutalität und Härte, die draußen im wahren Leben so tatsächlich existiert, steckt in diesen Romanen auch viel Menschlichkeit, ein Weltbild, das alles mit allem verknüpft sieht und letztendlich nur den Schluss zulässt, dass will man Gutes in der Welt erleben, so muss man es tun und verteidigen. Nebenbei großartig und äußerst gekonnt von Peter Torberg ins Deutsche übertragen.

Nichts von alledem hat irgendetwas mit dem Alptraum zu tun, der vor zwei Monaten Besitz von meinem Leben und dem mehrerer anderer Menschen ergriffen hat, ein Alptraum der mir Verletzungen zufügte, von denen die Ärzte meinten, sie seien so gut verheilt wie man sich nur hätte wünschen können. […] Nein, das alles, der niedergeschossene Priester, Serienmörder, der in mein Leben trat, die jüngsten ethnischen Säuberungen in einer der ehemaligen Sowjetrepubliken, der Mann der nicht weit von hier in einer Abtreibungsklinik um sich geschossen hat, oder ein weiterer Serienmörder, der in Utah zehn Menschen umgebracht hat und noch immer nicht gefasst worden ist – das alles hat nichts miteinander zu tun.

Manchmal allerdings habe ich das Gefühl, dass das nicht stimmt. dass es einen Faden gibt, der all diese Ereignisse, all diese zufälligen und willkürlichen Gewalttaten verbindet, und dass wir an diesem Faden ziehen können, alles auflösen un den Sinn darin erkennen, wenn wir nur den Anfang des Fadens finden.

Zur Besprechung des ersten Bandes der Reihe mit dem Titel Ein letzter Drink geht es hier

Buchdetails

  • Aktuelle Ausgabe: 28. Juni 2017
  • Verlag: Diogenes
  • ISBN: 978-3-257-60792-5
  • Klappenbroschur: 512 Seiten

 

 

 

4 Gedanken zu “Der Anfang des Fadens

  1. Genau!! Aber vielleicht kommt ja dazwischen noch sein neuestes Buch, nicht in die Reihe gehörend … aber sicher ebenso gut. LG!

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  2. Oh gerne – war mir ein Vergnügen und ich werde weiterlesen. Du hast also die nicht neu übersetzten Bände gelesen … würde mich interessieren, ob es da Unterschiede gibt … muss ich recherchieren 😉 LG

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