Ein junges verliebtes Paar findet die Leiche eines Afrikaners – am Bijou Plage, dem schönsten Strandabschnitt von Cannes. Mord könnte es gewesen sein und deshalb muss Commissaire Duval seinen einwöchigen Urlaub, den er in trauter Zweisamkeit mit seiner Freundin Annie genießen wollte, unterbrechen. Doch Annie, Journalistin von Beruf, interessiert sich ebenso sehr für die Aufklärung des Falls, wie Duval. Der Tote gehörte zu einer Gruppe afrikanischer Männer, die jedes Jahr nach Cannes kamen, um dort ihr Geld mit billigem Tand zu verdienen. Straßenhändler sind sie. Früher verkauften sie traditionell gefertigte Kunst aus Afrika, heute eher in China produzierte Billigware. Wieder einmal der Beweis dafür, dass die Globalisierung vor niemandem wirklich Halt macht – die meisten Menschen jedoch erfahren durch sie keine Verbesserung ihrer Lebensumstände.
Zunächst ist unklar, ob der Tod des Afrikaners mit unaussprechlichem Namen quasi mit einer Clan-Angelegenheit zu tun hat oder ob tatsächlich ein Zusammenhang mit den an der italienischen Grenze zu Frankreich festsitzenden Flüchtlingen besteht. Denn auch in Cannes regen sich die Stimmen, die keine geflüchteten Menschen – gleich welcher Nation – in ihrer Mitte haben wollen – Nous sommes chez nous – Nationalismus ist angesagt. Irgendwie. Nicht ganz offen, soweit ist es noch nicht, doch irgendwer muss ja die rechtsradikalen Plakate des nächtens geklebt haben, die einfordern, Frankreich den Franzosen zu überlassen. Annie wittert hier eine starke Verbindung zu dem Todesfall und lotst Duval an die Grenze, um die Situation der dort gestrandeten Menschen persönlich in Augenschein zu nehmen. Sie schätzt und bewundert den deutschen Umgang mit der sogenannten „Flüchtlingswelle“ und wünscht sich für Frankreich ein ähnliches Vorgehen. Eine Änderung des Verhaltens im Konsum jedes Einzelnen könnte langsam aber stetig auch global die Lebensumstände vieler Menschen verbessern, sodass diese nicht mehr gezwungen wären, sich über zwielichtige Schlepper teure, gefährliche Fluchtwege zu erschließen. Das ist ihr Credo.
Annie schwieg. »Trotzdem«, sagte sie irgendwann. «Jedes andere Land ist großzügiger und menschlicher mit den Flüchtlingen als unseres. Ich schäme mich für Frankreich. Hast Du Deutschland gesehen?
Eine erzkonservative Bundeskanzlerin, aber sie hat menschlich gehandelt! Und wir haben einen linken Präsidenten und machen die Grenzen dicht! Pah! Was für eine Schande!«
Während Annie ohne Wenn und Aber solidarisch und menschlich argumentiert, sieht Duval pragmatisch die vielfältigen Schwierigkeiten, die auf ein Land zukommen, das plötzlich mit einer solchen Situation konfrontiert ist. Wobei fairerweise gesagt werden muss, dass Europa diese Situation durchaus hätte voraussehen können …
So recherchieren die Journalistin und der Kommissar letztendlich in unterschiedliche Richtungen mit unterschiedlichen Ansätzen, was sich auch auf ihr Privatleben auswirkt.
Christine Cazon legt mit Endstation Côte d’Azur den vierten Band ihrer Krimireihe um Commissaire Duval vor. Wie viele andere französische Kommissare wurde er von Paris wegversetzt – mit Cannes als neuem Wirkungsort hatte er jedoch Glück, waren doch seine Großeltern bereits aus Italien an die Côte d’Azur gezogen, um ihren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen. Schon damit zeigt sich, dass doch die allermeisten Menschen ihre Wurzeln weiter verzweigt haben, als sie es sich selbst eingestehen (möchten). Während die vorangegangenen drei Bände der Reihe kaum gesellschaftskritische Aspekte, aber dennoch Lebensrealität widerspiegeln, besticht Endstation Côte d’Azur gerade durch die Darstellung einer lebhaften und reellen Diskussion um eine der größten Herausforderungen, denen wir uns derzeit gegenüber sehen: Wie können wir die negativen Folgen einer unkontrollierten Globalisierung auffangen und es vielen Menschen wieder ermöglichen, ein Leben in Freiheit und ohne Angst vor Hunger oder Krieg in ihrer Heimat zu führen.
Eingefleischte Fans von spannungsgeladenen Krimis wird Christine Cazon damit wahrscheinlich nicht begeistern können. Doch Leser*innen wie mir, die weder parapsychologische begabte Ermittler, noch allzu blutige Mordfälle bevorzugen, atemlose Spannung auch mal gegen eine lebhafte sozialkritische Diskussion tauschen mögen, beschert sie damit ein angenehmes und unterhaltsames Leseerlebnis. Zumal die Auflösung der Fälle nicht wirklich vorhersehbar ist. Nebenbei erweitert Cazon auch noch den musikalischen und kulturellen Horizont. Neben Brel, der Duvals Lieblingschansonnier ist, habe auch ich meine CD von Aznavour heraus gekramt … und nach
gesucht, in dem die Gefühle so vieler Einwanderer perfekt beschrieben werden. Der von ihr erwähnte Clown und Stand-up Comedian Coluche, der selbst aus armen Verhältnissen stammte und sich für soziale Gerechtigkeit engagierte, war mir trotz seiner tragenden Rolle in einem meiner liebsten Louis-de- Funès-Filme kein Begriff.
»Ich bin nicht neureich, sondern ein ehemaliger Armer«, hatte er [Coluche] gesagt und gegen soziale Ungerechtigkeit gewettert: »Es ist doch nicht normal, dass in Frankreich, dem Land des Fressens, die Leute nichts zu beißen haben.« Obwohl die ursprüngliche Idee eines klassischen Restaurants, in dem jeder zahlt, was er kann, und die Reicheren der Gesellschaft den Ärmeren ein Essen ausgaben, mehr und mehr einfachen Kantinen und Suppenküchen gewichen war, so galten diese Orte dennoch als unantastbar. Dem in ganz Frankreich agierenden Verein gleichen Namens flossen viele Spenden zu und Tausende von Menschen arbeiteten dort ehrenamtlich mit. Musiker, Sänger und Prominente komponierten und sangen unter dem Titel »Les Enfoirés«, die Verrückten, jedes Jahr einen schmissigen Song ein, dessen gesamter Erlös den »Herzensrestaurants« zufloss. Auch 30 Jahre nach dem frühen Tod Coluches, der all das ursprünglich finanziert hatte, wurde die Hilfe für die Armen engagiert weitergeführt. Wie lange noch?
Fazit: Für mich wird diese Reihe Band für Band interessanter, und so bin ich gespannt, was auf Léon Duval – und Annie – weiterhin zukommen wird, inklusive musikalischer und kultureller Horizonterweiterung meinerseits.
Buchdetails
- Aktuelle Ausgabe: 09. März 2017
- Verlag: Kiepenheuer & Witsch
- ISBN: 978-3-462-05013-4
- Broschur: 320 Seiten
Schön – Aznavour hat ja selbst armenische Wurzeln. Ich mag ihn sehr gerne. Schade, dass man so vieles an Sprache immer so schnell vergisst … LG
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Danke für den übersetzten Text. Dies ist ein Lied so ganz nach meinem Geschmack. Zum Ausdruck mancherlei Sehnsüchte kommt der Wunsch, das Schulfranzösisch etwas aufzuwärmen.
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Es gibt bisher nur Band 4. Ich weiß nimmer wer leist. Informiere dich dann 😉
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Merci
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Cool. Wer liest? Wenn es alle gibt, dann hol Dir vielleicht danach die anderen auch … ich fand sie immer gut.
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Und es gibt ihn als Hörbuch in der Stabi , das ist doch schön…
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Man kann mit dem vierten gut einsteigen – man verpasst nicht so viel von Duvals Privatleben oder seiner Truppe, dass man nicht mit käme … die vorherigen Bände waren auch gut, aber dieser hier, der hat mich wirklich sehr begeistert.
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Gerne – das Lied Emmenez-moi au bout de la terre wird, wie so einige Lieder der großen französischen Chansonniers im Krimi direkt erwähnt. Eine Übersetzung des wunderschönen, melancholischen Textes findet man hier:
http://www.songtexte.com/uebersetzung/charles-aznavour/emmenez-moi-deutsch-3bd6a014.html
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Danke für den aktuellen Blick ins Nachbarland und die Welt sowie das eindrucksvolle Lied.
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O lala, das klingt tatsächlich wieder einmal nach einem Krimi pour moi. Merci beaucoup
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Naja, es gibt auch Stimmen, die diese Reiihe nicht mögen. Aber versuch es einfach.
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Es gibt so viele mäßig gute Krimireihen mit Landeskolorit, schön, dass es auch Ausnahmen gibt. Das werde ich mir mal merken, da ich die Côte d’Azur liebe. Danke für den Tipp!
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