“ Erst wenn wir Risse haben kommt das Licht herein. Und das Licht kann heraus.“
Quentin kennt Margo schon sein ganzes Leben. Seit die beiden zwei Jahre alt waren, wohnen sie Haus an Haus. Der nahe Spielplatz ist ihr gemeinsames Revier, bis sie im Alter von 9 Jahren genau dort einen grausigen Fund machen: An einem Baum gelehnt sitzt ein Mann, dessen letzte Saite gerissen ist. Margo, die Unerschrockene entdeckt zuerst, dass der Mann tot ist. Furchtlos versucht sie später herauszufinden, wer dieser Tote im Leben war, weshalb die letzte seiner Saiten riß. In einem kleinen schwarzen Büchlein notiert sie die Ergebnisse ihrer Erkundigungen. Quentin, der Zurückhaltende, hingegen ist eher von Margo selbst fasziniert.
Obwohl die beiden weiterhin Tür an Tür leben, trennen sich ihre Wege. Margo bleibt für Quentin die Anbetungswürdige, weil sie wild und unangepasst ist. Was für ihn so erstrebenswert erscheint, macht es Margo in ihrer Familie nicht leicht und deshalb wagt sie ab und zu eine Flucht, reißt aus – aber immer in der Hoffnung, jemand könne die Spuren, die sie hinterläßt entschlüsseln … doch wie soll man darauf kommen, dass die in der Buchstabensuppe zurück gelassenen Buchstaben M, S, P und I für Mississippi stehen …
Was hält uns Menschen zusammen, was hält uns geistig gesund und am Leben? Sind wir wie Grashalme, die über ihr Wurzelgeflecht miteinander verbunden sind. Stirbt ein Halm, bleibt er dennoch in den Anteilen der anderen Halme und den Wurzeln lebendig. Sind wir Menschen über unseren Tod hinaus existent, weil wir alle miteinander verbunden, Spuren in den anderen hinterlassen? Oder ist es vielmehr so, dass jeder für sich durch verschiedene Saiten zusammen gehalten wird? Saiten, die durch negative Ereignisse reißen können und wenn dann die letzte gerissen ist, zerspringen wird. Oder aber erleiden wir durch Momente die uns traurig machen, die uns verletzen in unserer zu Beginn perfekt dichten Hülle Risse? Risse, die uns für die anderen menschlich und damit erst erkennbar machen.
All das überlegt sich Quentin während der Suche, auf die er sich begibt, um Margos Spuren zu folgen und letztendlich sie, die von einem Tag auf den anderen, nach einer ungewöhnlichen gemeinsam verbrachten Nacht verschwunden ist, zu finden. Tatsächlich muss er aber mehr tun, als sie nur finden – denn um die Spuren zu entschlüsseln, muss er das Bild, das er sich von Margo Jahre lang gemacht hatte, neu zeichnen … sie wirklich kennen lernen.
John Green hat mit Margos Spuren ein auf den unterschiedlichsten Ebenen für mich erstaunliches Buch geschrieben. Spannend ist es – die Suche nach Margo gestaltet sich nicht einfach und ich rätsle mit Quentin und seinen Freunden mit. Witzig dazu – die Dialoge sind frisch, authentisch und bringen mich zum Lachen. Tiefgehend und berührend bleibt es mir im Gedächtnis – die Querverweise auf die von Margo gelesene Literatur und deren philosophische Auslegung bringt mich zum Nachdenken, die Liebesgeschichte empfinde ich als sehr schön geschildert. Bereichernd informativ zeigt es mir Neues – ich lerne eine Seite der Jugend kennen, die ich als „Mädchen“ noch nicht so durchdringen konnte, die mich als Mutter eines Sohnes aber brennend interessiert: die Welt der Jungs.
Und das alles bekomme ich wunderbar konzipiert und strukturiert auf einem Silbertablett, ach was auf purem Gold, präsentiert. Ich kann erkennen, wie viele kluge Gedanken sich Green beim Schreiben gemacht hat und sehe trotzdem nicht, ob es ihn Mühe gekostet haben mag. Das ist eine Kunst. Das ist Literatur.
Egal, ob im Jugendbuch-, Unterhaltungs- oder ernstzunehmenden belletristischen Bereich: ein Buch, eine Geschichte, muss berühren, gleichgültig auf welche Art und Weise. Und berühren muss nicht heißen, dass die Lektüre einfach oder immer angenehm sein muss. Es muss auch nicht heißen, dass ein gewisses Identifikationspotential angeboten wird. Was genau ins Herz trifft, das ist so verschieden, wie wir Menschen es sind. Aber John Green hat es ausgelotet und legt den Pfeil zielsicher an. Bis ins Detail. Der Show-Down der Road-Novel findet deshalb auch im Präsens statt – anders als der Rest des Romanes, der fast durchgängig von Quentin in der Rückschau erzählt wird.
Der deutsche Titel Margos Spuren setzt allerdings einen anderen Fokus im Roman, als der Originaltitel Paper Towns – das habe ich erst über das Nachwort begriffen. Paper Towns sind sogenannte Plagiatsfallen, fiktive Orte, die vor allem in Landkarten eingetragen werden, um feststellen zu können, ob eine Karte raubkopiert wurde oder nicht. Ähnlich verfahren Lexikonverlage mit fiktiven Beiträgen – wer kennt nicht die Steinlaus, die Aufnahme in eines der medizinischen Standardwerke fand.
John Green hat einmal versucht, eine solche Paper Town zu finden, ohne Erfolg. Erfolg hatte er aber um so mehr dabei, diese Art von Stadt oder Ort ins Zentrum einer wunderbaren Geschichte über fast alles wirklich Wichtige im Leben zu stellen.
Absolute Leseempfehlung – nicht nur für Jugendliche!
„Am Anfang sind wir alle wasserdicht, aber dann passieren Dinge – Leute verlassen uns, lieben uns nicht oder verstehen uns nicht, oder wir verstehen sie nicht, und verlieren und scheitern und tun einander weh. Und so bekommen wir Risse Und ja sobald ein Schiff leck ist, ist das Ende unvermeidlich. … Trotzdem – da ist eine Menge Zeit zwischen den ersten Rissen und dem End, wenn wir auseinanderbrechen. Und vielleicht ist es gerade die Zeit, in der einander sehen können, weil wir durch unsere Risse hinausblicken können und durch die Risse der anderen in sie hinein.“
Buchdetails
- Aktuelle Ausgabe : 19. Juni 2015
- Verlag : dtv verlag
- ISBN: 978-3-423-08644-8
- Taschenbuch, 336 Seiten
- ab 14 Jahren