Leseflauten, das Leben und der ganze Rest …
2024 – das elfte Jahr unserer handverlesenen High Fives und jedes Jahr dachten wir, es kann im kommenden Jahr ja nur noch besser werden. Die geostrategischen Verwerfungen, die voranschreitenden Klimaänderungen, die Bedrohung des vielleicht nicht besten, aber des besten existenten gesellschaftspolitischen Systems in so vielen Ländern, die seit bald drei Jahren weiter standhaltenden Ukrainer*innen, ein trudelndes, verunsichertes Europa – die Liste ließe sich noch erweitern – verlangen uns neben den persönlichen Aufgaben so einiges ab. Da kommt dann häufig die Literatur zu kurz, auch wenn sie gerade in solchen Zeiten doch wichtig wäre. Sie kann Rat geben, Horizonte erweitern, sich heimisch fühlen lassen oder einfach einen eskapistischen Fluchtort schaffen. Denn eines ist sicher: Lesen hilft – immer! Und dennoch müssen wir dieses Jahr aus zeitlichen Gründen auf awoglis geschätze High Fives verzichten, aber keine Angst, sie wird wieder kommen … Dafür aber nimmt Thursdaynext ihr Lesejahr 2024 ganz genau unter die Lupe.
Wie immer fragen wir, die üblichen Verdächtigen, uns, wie erging es euch 2024 mit dem Thema Buch? Wir freuen uns auf Kommentare, danken herzlich für eure treue Gefolgschaft und wünschen euch einen guten Start in ein gutes, positives Jahr 2025!
Bri
Man spricht über Jacqueline von Katrin Holland – Reihe Entdeckungen hrg. von Magda Birkmann und Nicole Seifert
Der Debütroman der Autorin Katrin Holland, die später als Martha Albrand in den USA großen Erfolg feiern konnte, ist eine der erstaunlichen Entdeckungen, die wir der Reihe „Entdeckungen“ verdanken. An der Oberfläche ein Liebesroman, der bereits 1930 als solcher verfilmt und mit einem, wohl dem Zeitgeist angepassten. Ende versehen wurde, ist dieser Roman viel mehr ein genaues Bild von gesellschaftlichen Strukturen, die leider auch heute noch zu funktionieren scheinen. Die große Frage, die er stellt ist meines Erachtens nach eine wahrhaft feministische. Aber lest selbst …
Die Möglichkeit von Glück von Anne Rabe
Anne Rabe arbeitet in ihrem Debütroman sehr geschickt und fast nebenbei, dennoch zentral, heraus, was viele Menschen, die in der DDR lebten, erfuhren: Gewalt, Unterdrückung, Lieblosigkeit in der Kindheit, Unterordnung des Individuums unter die Gemeinschaft, Mangel an so vielem. Verarbeitung von all dem: gleich Null. Dem vorangegangenen Faschismus der Nazizeit setzte man ein trotziges „nie wieder “ entgegen und schuf dabei eine ähnliche Gesellschaftsstruktur, in dem Glauben daran, einen besseren Staat für die Menschen zu ermöglichen. 56 Jahre Terror und ein allgegenwärtiges Schweigen sowohl innerfamiliär als auch in der Gesellschaft über beide entmenschlichenden Systeme hinterließen tiefe Wunden, die bis heute schwelen.
Treibgut von Adrienne Brodeur
Dieses Schätzchen wäre beinahe an mir vorbeigegangen. Als ich darüber nachdachte, wie man Adrienne Brodeurs wunderbaren Roman
Treibgut adäquat besprechen könnte, fiel mir plötzlich diese eine Zeile aus Jon Batistes Lied
Be who you are ein:
But you can only be who you are. Aber so einfach ist das halt nicht, mit dem „Sein wer man ist“. Aus meiner Sicht gerade eben als Frau, die unwillentlich irgendwie häufig geprägt davon ist, eine bestimmte Rolle ein- und das eigene Wesen dadurch zurückzunehmen. Subtil und spannend erzählt Brodeur vor der paradiesischen Kulisse Cape Cods von (alten) Verletzungen, gekappten Banden, neu gewonnener Stärke, wieder gefundenen Freundschaften und der Einsicht, dass angepasstes Verhalten keine Unbill verhindert. Also doch: Be who you are – oder: es gibt kein richtiges im falschen Leben.
Noch mal von vorne von Dana von Suffrin
Nachdem Dana von Suffrin mich mit ihrem ersten Roman
Otto zunächst ein wenig verwirrt und Katharina Hermann aka @kulturgeschwaetz mich auf die Spur gesetzt hatte, war mir bei von Suffrins zweitem Roman
Nochmal von vorne klar, dass ich nicht zu verkopft lesen darf. Lustig fanden viele den Roman, ich fand ihn eher tragisch-komisch, eben wegen der unglaublichen Tiefe, die von Suffrin unter einer Art „Familiennarrative“ wie wir sie wohl alle aus unseren Kindheits- und Jugenderinnerungen kennen, nicht versteckt, aber eben auch nicht offen auf den Tisch packt. Ein kluger Schachzug, der die thematisch nicht leichte Lektüre leichtfüßig durchschreiten lässt.
Der Gang vor die Hunde von Erich Kästner
Seit 1980 habe ich eine alte Ausgabe des Fabian in meinem Regal stehen. 1931 (Kästner war da gerade 32 Jahre alt) wurde der Roman stark gekürzt und und unter anderem Titel als vom Autor beabsichtigt, erstveröffenticht und am 10. Mai 1933 als „entartete Kunst“ von den Nationalsozialisten verbrannt. Die Entschärfung des gesellschaftskritischen Romans hatte nichts gebracht, Kästner sah all die Bücher, die dem nationalsozialistischen Gedankengut nicht entsprachen, mit eigenen Augen brennen, als einziger der Autor*innen, deren Bücher dort wegen des Regens erst in Flammen aufgingen, als die Feuerwehr Benzin zu Hilfe nahm. Wenn das nicht an Fahrenheit 451 erinnert, dann weiß ich auch nicht. Die Urfassung, erstmals 2013 unter dem ursprünglich von Kästner gewünschten Titel erschienen, ist ein unbedingtes Muss für alle, die Kästner in seiner Vielschichtigkeit näher kommen wollen … für mich war es DAS Buch des Jahres.
daslesendesatzzeichen
Wildhonig von Jodi Picoult und Jennifer Finney Boylan.Zwei Teenager, Asher und Lily, lernen sich an der Highschool kennen und verlieben sich. Wenige Monate später ist Lily tot und Asher wird des vorsätzlichen Mordes beschuldigt. Liebesgeschichte, Gerichtsdrama, Familendrama, Coming-of-age – alles gekonnt verknüpft und als roter Faden dient der Honig und das Imkern.
Maame von Jessica George
Maddie ist immer „on duty“, immer ansprechbar, immer zugewandt, immer zuständig. Deshalb nennt man sie auch Maame – die, die Verantwortung trägt. Liebevoll und witzig erzählt Maddie als Ich-Erzählerin von ihrem Leben. Das zieht einen sprachlich direkt hinein in ihre Selbstfindungsphase mit Krise – wir schauen ihr über die Schulter und sind live dabei, wenn sie erlebt, was sie erlebt.
Windstärke 17 von Caroline Wahl
Voller Sprachwucht, in ihrem typischen „Erzählstakkato“, unfassbar lakonisch und dennoch so emotional bewegend, mit großer Freude am besonderen Formulieren verfasst Caro Wahl „Windstärke 17“, pustet uns in das Hier und Jetzt der großgewordenen kleinen Schwester aus „22 Bahnen“, die sich in diesem Buch nach Rügen treiben lässt, und wir lassen uns erfassen, mitreißen und schauen Ida gespannt zu bei einem kleinen Ausschnitt ihres Lebens.
Noto von Adriano Sack
Ein Mann verliert seine große Liebe durch einen Unfall und stellt sich bei der Rückkehr ins gemeinsame Haus auf Sizilien seinen „Dämonen“. Ganz unerwartet lustig, klug, traurig, verrückt, lehrreich, wild. Für wen?: Alle, die Armisted Maupin und seine „Stadtgeschichten“ mochte, werden es, wie ich, lieben!
Umlaufbahnen von Samantha Harvey
Hierzu gibt es noch keinen eigenen Post, weil ich noch gar nicht ganz durch bin. Aber das ist mal wieder ein Buch, das mein Herz höherschlagen lässt, einfach, weil es so anders ist, als alles, was man so liest! Eine Handvoll Astronauten sind in ihrer Raumkapsel und umkreisen unaufhörlich die Erde. Wir schlüpfen in die Köpfe der einzelnen Personen, erfahren Schnipsel ihrer Identität, erfahren Eindrücke über den Alltag an Bord dieser „Heimat auf Zeit“, lesen wunderschöne und auch schreckliche Beschreibungen von Naturphänomenen, die von dort oben so seltsam unwirklich anmuten! Irre!
Geruede
Der Salzpfad von Raynor Winn
In der Mitte des Lebens mit Obdachlosigkeit und unheilbarer Krankheit konfrontiert, macht das Ehepaar Winn das einzig Richtige: Sie begeben sich auf den South West Coast Path zu einer mehrmonatigen Wanderung. Bis sie zugrunde gehen oder sich ein Weg in die Zukunft eröffnet. Ehrlich und mitreißend. Ein beeindruckender Lebensabschnittbericht, der einen nicht mehr los läßt.
Zur See von Dörte Hansen
Dörte Hansen brilliert in diesem Roman sowohl erzählerisch als auch stilistisch, während sie die unterschiedlich verlaufenden Leben der Mitglieder einer alt eingesessenen Inselfamilie zwischen Tradition und heutigen Zwängen nachzeichnet. Absolute Spitzenliteratur im Schatten der Nordsee.
Der Untergang der Wager von David Grann
David Grann spürt den haarsträubenden Ereignissen auf der letzten Fahrt der
Wager nach, die 1742 vor der Südküste Südamerikas schließlich aufgegeben werden mußte. Er rekonstruiert anhand zahlreicher zeitgenössischer Dokumente sowohl die Ereignisse an Bord, als auch die Eigenheiten der Besatzung, die nach der Aufgabe der
Wager ein Martyrium auf einer kargen, lebensfeindlichen Insel durchleiden mußte. Am Ende überlebten nur eine handvoll Besatzungsmitglieder die verhängnisvolle Fahrt der
Wager. Überaus spannend und lehrreich geschrieben. Ein echter Kriminalthriller, wie ihn das Leben damals schrieb.
Die Insel der tausend Leuchttürme von Walter Moers
Eine großartige Geschichte wortgewaltig dargebracht. Tausend tolle Einfälle zeichnen dieses Buch aus. Und wieder einmal kann man vor der Arbeit Walter Moers nur den Hut ziehen.
Wolfszeit von Harald Jähner
Das gewaltige Detailwissen dieses Buches bereichert das eigene Bild ungemein, das man von der Zeit des Zusammenbruchs des NS-Regimes und der sogenannten „Stunde Null“ hat, sofern man eine halbwegs taugliche Schulbildung genossen hat. Wenn nicht sollte man dies mithilfe dieses Buches nachholen und so vorhandene Lücken schließen. Es ist spannend und sehr lehrreich. Die Antifa war übrigens damals auch schon aktiv und regte an, die Trümmerberge von Mitgliedern der NSDAP wegräumen zu lassen. Dies und vieles mehr erfährt man bei der Lektüre dieses wichtigen Werkes.
Thursdaynext
Dieses Jahr war ich etwas erschrocken als ich anfing mir Gedanken über meine High Fives zu machen. Ich habe relativ wenig gelesen, vieles angefangen und kurz daruf das Interesse verloren. (Lese) Zeit war dieses Jahr Mangelware und die Nachrichten ein Grauen.
All die Jahre davor gab es viel zuviele Bücher die ich schmerzhaft aussortieren musste, um auf die fünf wichtigsten Bücher meines Jahres zu kommen. Dieses Mal gab es zuerst einmal nur meine heissgeliebte Urban-Fantasy-Trash-Serie die mir spontan in den Sinn kam. Daher werte ich meine Highlights dieses Jahr anders.
Mit
17 Bänden rund um die junge Protagonistin Jinx und ihre Freundinnen hat sich
Heather G. Harris in mein Herz geschrieben. Humorvoll, actionreich, spannend agieren die Mädels in einer Welt, der die Autorin immer neue Akzente hinzuzusetzen versteht. Angefixt wurde ich mit „
Glimmer – Die Verschollene“. Nach dem zweiten Band,
„Tod einer Nymphe“ war kein Entkommen mehr. Diese Welt hatte mich eingenommen.
The Other Realm, so der englische Name, ist den „Muggeln“ verborgen. Alle Arten mythischer und mystischer Charaktere finden dort ihren Platz, die meisten von ihnen sind aber auch fähig, sich in menschlicher Gestalt unauffällig in der realen Welt zu bewegen. Mit Heather G. Harris bin ich auf schier unzählige Abenteuer gegangen und der Misere hier im Real Life entflogen (eigentlich sollte hier entflohen stehen aber entflogen trifft es schon). Dabei gab es Dramen, Liebe, Freundschaft ein fast schon shakespearsches Universum nur in weniger gedrechselter Sprache. Wobei das easy zu lesende Englisch sprachlich schon eine Bereicherung ist, bringt diese Sprache doch mit wenigen Worten die Jokes auf den Punkt. Es war Lesefreude pur. Bester Urban-Fantasy – Eskapismus.
Und das brauchte es auch. Die Welt und die Menschheit, so wie sie sich gerade entwicklelt, ist grauenhaft. Sehr gut beschreibt dies
Naomi Klein in ihrem Buch
„Die Schock Strategie – Der Aufstieg des Katastrophenkapitalismus“ 2007 im Original erschienen, nimmt sie die heutigen Gegebenheiten vorweg, beschreibt den Weg dorthin. Den Staat verkleinern, Bildungschancen zu verringern, Konzerninteressen durchsetzen, all das erreicht man in dem man die Menschen mittels Katastrophen betäubt und Sündenböcke benennt um an die Macht zu kommen, sie zu halten und zu vergrößern. Es gibt sicher neuere Bücher zu all diesen Themen, aber Klein war visionär. Da Naomi Kleins Schock Strategie bereits etwas älter ist möchte ich
Jens Berger mit
„Wem gehört Deutschland“ als Highlight Nummer 2 hier erwähnen. Wem Piketty zu schwer ist (es gibt nach seinem Buch eine beindruckend gute Graphic Novel „Kapital & Ideologie“ von Claire Alet und Benjamin Adam) der kann sich auf Deutschland beschränken und Bergers überarbeitete Bilanz der letzten 10 Jahre lesen. Es lohnt sich, denn danach betrachtet man unser Land mit anderen Augen.
Ein weiteres Highlight war
Trophäe von
Gaea Schoeter. Die Innenansicht eines Jägers. Extrem unangenehmer Typ und doch entwickelt man während des Lesens Verständnis für sein abartiges Hobby und seine Handlungen, Gedanken. Grandios erzählte Geschichte die sich zwischen allen Schattierungen von Grau bewegt.
Ganz anders
„Yoko“ von
Bernhard Aichner. Hab ich für meine Mom besorgt, weil mir versichert wurde das wäre ein schön blutiger, spannender, brutaler Thriller. Trifft alles zu, aber wie heftig dieses Buch ist, damit habe ich nicht gerechnet, dass es mir nahegeht und mich so derb erwischt, lag auch an der cleveren Erzählstrategie des Autors, den ich bisher nie auf dem Schirm hatte, der mit kurzen Rückblenden Fragen aufwirft und so aus einer reinen Rachegeschichte etwas viel Schlimmeres macht. Krass bis zum Ende. Gut konstruiert, hervorragend fies erzählt. Sie wird es, wenn ich es endlich zur Post schaffe, zu schätzen wissen.
Leonard & Paul von Ronan Hession sind nun das exakte Gegenteil. Ein Wohlfühlbuch, ein Lobgesang auf normale Leben, Freundschaft und das Leben an sich. Dieser Roman mit seinen freundlichen Protagonisten plätschert im allerbesten Sinne genüsslich vor sich hin und bleibt lange im Kopf. Das gibt es nämlich noch und nicht zu knapp. Normale freundliche Menschen, die sich für andere interessieren und engagieren. 2024 ein Highlight.
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„Umlaufbahnen“ von Harvey habe ich jetzt an mehreren Stellen schon empfohlen bekommen. Sollte ich wohl mal meinem SuB hinzufügen.
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„Windstärke 17“ findet sich auch in meinen Jahreshighlights und „Die Möglichkeit von Glück“ fand ich auch sehr gut.
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Danke für die Lektüre-Auswahl in der Jahres-Schau, Respekt und Kompliment für Euer Gemeinschaftsprojekt. Alle guten Wünsche zum neuen Jahr 2025!
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Danke für eure vielen Besprechungen! Einen guten Rutsch und auf ein frohes Neues!!
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@thursdaynext ich bin jetzt fast durch, parallel lesen klappt nicht mehr 😪
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Die Umlaufbahnen will ich auch unbedingt lesen. Allerdings schon auf Deutsch. Ja wir lesen schon unterschiedlich, was mir auch sehr viel Freude macht, genau wie der Austausch. HIGHFIVE zurück 🙌
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Immer wieder spannend was ihr so lest. Bei etlichen eurer Bücher muss ich doch mal reinschnuppern. Schlampig lesen ist ein Kreuz, dreimal habe ich „Maame“ begeistert verschenkt und dieser Roman hätte unbedingt in meinen H5 auftauchen müssen. Ein Herzensbuch. Schön, dass das Lesende Satzzeichen es in ihren Highfives hat. Umlaufbahnen hab ich im Original hier liegen. An einem Booker Price Book mit ORBITAL als Titel komme ich nicht vorbei, gemeinsam lesen @das lesende Satzzeichen? „Zur See“ fand ich auch großartig erzählt und überhaupt ist der Austausch hier mit euch eine Bereicherung. HIGHFIVE ;)
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