Lange Zeit habe ich mich gefragt, was es wohl ist, das mich so unwiderstehlich am großen Gatsby anzieht. Egal wann, egal wie häufig ich ihn las oder hörte, nie wurde er mir langweilig, nie habe ich eine Schwäche in Stil oder Aufbau entdeckt. Im Gegenteil: je nachdem in welcher Lebensphase ich mich selbst befand, entdeckte ich weitere schillernde Facetten in der Geschichte oder verstand die von Fitzgerald unglaublich fein und deshalb so geschickt, sprachlich ausgefeilt und auf den Punkt, übereinander gelegten, ja mit einander verwobenen Schichten immer besser. Vielleicht auch immer anders, tiefer scheint es mir.
Häufig liest man ja, Fitzgerald habe eben das wilde Treiben der Goldenen Zwanziger Jahre, die Ausschweifungen und Dekadenz, vor allem den Snobismus und die Skrupellosigkeit der Besitzenden aufgezeigt. Der Begriff der Oberflächlichkeit wird oft mit seinem Werk und leider auch mit ihm als Autor verbunden. Wer immer wieder dieselben Begrifflichkeiten bemüht, um sich mit seinem Werk oder einer neuen Version dessen zu befassen, tut das offensichtlich selbst nur an der Oberfläche. Beispiele dafür gibt es zuhauf, man denke an die zwar sehr opulente, aber meiner Meinung nach völlig daneben liegende Verfilmung durch Baz Luhman mit Leonardo di Caprio in der Rolle des Jay Gatsby. DiCaprio gestand zwar in einem Interview zum Film, dass er jetzt erst verstanden hatte, dass diese Geschichte nicht nur eine Liebesgeschichte ist. Sein Gatsby aber liegt meilenweit entfernt von der vielschichtigen, zunächst undurchdringlichen Figur, die Fitzgerald schuf.
Was oder wer genau aber ist der große Gatsby nun? Kongenial erfasst liegt die Essenz dieses großartigen und für die damalige Zeit zukunftsweisenden, wenn auch wohl für die damalige Welt in seiner Komplexität und Perfektion überfordernde Roman nun in einem vom NDR produzierten Hörspiel vor.
Auch in dieser Lesart, die für mich genau trifft, was Fitzgerald im Sinn hatte, erzählt Nick Carraway, was er über Gatsby weiß und mit ihm erlebt hat. Wichtig dabei ist, worauf hier das Augenmerk gelegt wird. Nick ist und bleibt der perfekte Erzähler. Er gehört zu keiner der im Roman auftretenden Gruppen so richtig dazu, wird aber von allen angenommen. Wie Gatsby selbst ist er ein Außenseiter. Was die beiden dennoch unterscheidet ist die Tatsache, dass Nick im Gegensatz zu Gatsby gar nicht dazugehören muss. Seine Herkunft ist be- und anerkannt, Gatsby hingegen umweht ein Hauch von Geheimnis, vermischt mit Misstrauen. Diejenigen, die sich nur allzu gerne bei Gatsbys rauschenden Festen selbst einladen, betrinken, feiern bis zum Morgengrauen und an seiner Großzügigkeit bedienen, sind nur allzu gern bereit, jegliches Gerücht, vor allem die bösen, zu glauben. Kaum einer ist unter ihnen, der oder die Gatsby direkt über seine Vergangenheit oder sein Tun, mit dem er so unermesslich reich wurde, befragen. Außer eben Nick Carraway, der zunächsst von dem was Gatsby zu sein scheint, abgestossen nichts mit ihm zu tun haben möchte. Doch es kommt anders und er erkennt in Jay Gatsby den Kern von Rechtschaffenheit, Loyalität und trotz seiner offensichtlich kriminellen Geschäfte auch Aufrichtigkeit.
Wenn Persönlichkeit ein Zusammenspiel geglückter Gesten ist, dann hatte er etwas zauberhaftes an sich, eine erhöhte Empfindsamheit für die Verheißungen des Lebens, so als wäre er mit einem raffinierten Gerät verbunden, das ein Erdbeben aus zehntausend Meilen Entfernung registriert. Seine Sensibilität hatte nichts mit mit jener beliebigen Eindrucksfähigkeit gemein, die sich so hochtrabend »schöpferische Veranlagung« nennt – sie verdankte sich vielmehr einer außergewöhnlichen Gabe der Hoffnung, einer romantischen Sinnesart, wie ich sie bei niemandem sonst gefunden habe und wohl auch nie wieder finden werde.
Den krassen Gegensatz dazu bildet Tom Buchanan, der Ehemann von Nicks Cousine Daisy. Tom ist zwar ebenfalls immens reich, aber sein Besitz speist sich aus altem Geld. Einst war er ein guter Footballspieler, doch diese Zeiten sind vorbei. Nun hat er sich dem Polospiel zugewandt und besitzt natürlich mehrere Pferde. Er ist sportlich, schon sein Äußeres ist das Gegenteil von Gatsbys eleganter Erscheinung. Er ist der Typ weißer, snobistischer, reicher Amerikaner, der obwohl er nichts zu befürchten hat, der global um sich greifenden Idee des Faschismus mit den Weg bereiten würde. Alles Leichte bringt er sofort mit seiner kolosshaften Gestalt und Art auf den Boden der Tatsachen zurück. Wie Fitzgerald das beschreibt ist grandios und umgesetzt ist es im Hörspiel ebenso großartig durch Marc Hosemanns Interpretation.
Der einzig vollkommen unbewegliche Gegenstand im Raum war eine riesige Couch, auf der zwei junge Frauen schwebten wie in einem verankterten Fesselballon. Sie waren beide ganz in Weiß gekleidet, und ihre Röcke schwangen und flatterten, als wären sie nach einem Flug ums Haus eben erst wieder hereingeweht worden. Ich muss wohl einige Augenblicke nur so dagestanden und dem Peitschen und Knattern der Vorhänge und dem Ächzen eines Bildes an der Wand gelauscht haben. Dann ertönte ein Knall – Tom Buchanan hatte die hinteren Türen geschlossen – der im Zimmer gefangene Wind erstarb, und die Vorhänge und die Teppiche und die zwei jungen Frauen sanken langsam zur Erde.
Und zwischen diesen beiden Männern steht die zarte, bezaubernde Daisy. Junge Frau aus gutem Hause, früher umschwärmt, vielfach verliebt aber immer auf der Suche nach finanzieller Sicherheit. Weshalb sonst sollte sie Tom anstelle von Jay geheiratet haben, der nach Ende des ersten Weltkrieges nicht schnell genug wieder zu ihr zurück kommen konnte.
Doch hier wird auch klar, dass es sich nicht um eine reine Liebesgeschichte handelt. Die Frage der wahren Identität eines Menschen, der Glaube an den amerikanischen Traum, dass man es schaffen kann, vom Tellerwäscher zum Milionär zu werden, nimmt Fitzgerald mit leichter Hand auseinander. Die Gerüchte um Gatsbys Herkunft und Tun werden immer wilder und als es zum unvermeidlichen Äußersten kommt, glaubt natürlich niemand an Gatsbys Unschuld – außer Nick. All die Gäste, die die rauschenden Sommerfeste besuchten sind plötzlich wie vom Erdboden verschluckt und Tom spielt dabei eine nicht geringe Rolle.
»Was ist los Nick? Gibst Du mir jetzt nicht mal mehr die Hand?« »Nein, Du weißt was ich von dir halte.« »Du bist verrückt Nick«, sagte er rasch. »Völlig verrückt. Ich weiß nicht, was in dich gefahren ist.« »Tom«, fragte ich ihn, »was hast du an jenem Nachmittag zu Wilson gesagt?«
Mit diesem Zitat beginnt Oliver Sturm das Hörspiel und wiederholt es später noch einmal, was den Aufbau der Zusammensetzung der Szenen ein gewisses Gewicht und gleichzeitig eine wichtige Abgeschlossenheit verleiht. Oliver Sturm hat durch das Arrangement der einzelnen Szenen des Romans, die er nicht chronologisch aber das Verständnis der Komplexität des Romans fördernd anordnet, ein Hörspielereignis der Extraklasse geschaffen. Dabei ist es unerheblich, ob man den Roman kennt, gut kennt oder noch nie gelesen hat – die Stimmen, die die einzelnen Figuren lebendig machen, malen die Szenerie nachhaltig vor das geistige Auge. Unterstützt die Atmosphäre durch die großartigen Kompositionen von Sabine Worthmann. Dabei folgt die gesamte Bearbeitung der Übersetzung von Bettina Abarbanell, die den Roman 2011 für den Diogenes Verlag großartig neu übersetzt hat. Die zitierten Stellen stammen ebenfalls aus dieser Ausgabe.
Wer also bisher noch keinen Schritt in Gatsbys Welt in der Literatur gemacht hat, dem sei dieses Hörspiel heiß empfohlen – ich hoffe, es ist dann ein Grund, sich mit dem Werk Fitzgeralds näher zu befassen. Denn alles, was dieser großartige Autor zu Papier gebracht, ist meisterhaft in Stil, Ausdruck und Komposition.
Gatsby glaubte an das grüne Licht, die wundervolle Zukunft, die Jahr für Jahr vor uns zurückweicht. Damals entwischte sie uns, aber was macht das schon – morgen laufen wir schneller, strecken die Arme weiter aus … Und eines schönen Tages … So kämpfen wir weiter, wie Boote gegen den Strom, und unablässig treibt es uns zurück in die Vergangenheit.
Der große Gatsby als Hörspielfassung von Oliver Sturm ist als CD bei Der Audio Verlag im Oktober 2023 erschienen. Für mehr Information zum Hörspiel per Doppelklick auf das im Beitrag abgebildete Cover oder auf der Verlagsseite.

Liebe Sabine, wie schön! Und vielen Dank für das Lob. Ich drücke mich seit Jahren um eine Besprechung des Buches, jetzt war die Zeit reif. Das Hörspiel lohnt auch sehr, wenn man Hörspiele mag … Liebe Grüße, Bri
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Tolle Besprechung! Liebe „The Great Gatsby“ ebenfalls und vielleicht ist 2024 das Jahr in dem ich das Buch mal wieder lese. Du machst mir auf jeden Fall große Lust darauf 🙂 Liebe Grüße, Sabine
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