Ich suche mir gerne Literatur, die ein wenig abseitig ist, wühle oft in den Verlagsprogrammen kleinerer Verlage und stoße immer wieder auf Perlen. Zweimal ist mir dies auch beim umtriebigen Berliner Verbrecher Verlag gelungen: „Vater und ich“ von Dilek Güngör, das ja dann sogar für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde und „Spitzenreiterinnen“ von Jovana Reisinger, das auf der Liste des Bayerischen Buchpreises stand. Schwer getan habe ich mich mit meiner letzten Buchwahl aus diesem Indie-Verlag, nämlich mit „Der Leselebenstintensee“ von Giwi Margwelaschwili. Wie begeistert war das bei der Online-Bücherpräsentation des Verlages vorgestellt worden, sodass ich mir sofort eine Notiz machte, dass ich dieses Buch unbedingt lesen muss. Nun liegt es bereits seit einigen Monaten bei mir und ich versuche es immer und immer wieder, doch es erreicht mich nicht. Ein Buch, das die Buchpersonen (des gesamten Literaturbetriebs) in sein Zentrum stellt, bei dem der Autor mit seinen Geschöpfen in den direkten Dialog geht, bei dem ebendiese Figuren versuchen, zum Leselebenstintensee, also ihrer Quelle, ihrem Ursprung zu wandern, um sich selbst besser zu verstehen bzw. um sich vielleicht einfach ihrer Existenz zu vergewissern. Klingt erst mal richtig klasse.
Doch, statt dass hier ein Lesefluss entstehen würde, wird hier immer und immer wieder dasselbe Szenario wiederholt: Der Trupp will loswandern, der Bergführer findet das Unterfangen schlicht unverantwortlich, weil der Weg viel zu gefährlich und nicht bekannt ist. Ein endloser Disput zwischen den beiden Parteien entsteht. Zumindest in den ersten 35 Seiten kommen sie keinen Schritt vorwärts.
Auf Seite 23 sagt Karl, der Bergführer, etwas, was mich sehr anfasste und dazu bewog, trotz bleischwerer Langeweile ob der bisherigen Inhalte, weiterzulesen:
„Es kann nämlich auch sehr leicht so kommen, daß dieser Leser und Schreiberling – wenn die Expedition nicht nach seinem Wunsch geschieht, wenn dabei nichts Interessantes passiert oder nichts, was interessant genug wäre, um später möglichst viele und ganz andere Leser im Geiste dieselbe Expedition an die Federlebensquelle mit euch mitmachen zu lassen – das ganze Vorhaben plötzlich abbläst, weil er der Meinung ist, daß diese Erzählung kein literarischer Erfolg werden kann. Und es wäre nicht das erste Mal, daß ein Schreiberling seine Buchpersonen derart verrät, daß er sie in der Luft hängen läßt, weil ihr Text ihm nicht mehr gefällt und er keine Lust mehr hat, noch weiter daran zu schreiben!“
Natürlich wollte ich niemand sein, der seine Buchpersonen im Stich lässt, sei es als Leser, sei es als Schreiberling! Also las ich weiter. 12 langatmige, staubtrockene, für mich verwirrende und um sich selbst drehende Seiten. Aber dann kam ich nie mehr rein ins Geschehen, das keines ist.
Ich habe an mir gezweifelt, fand mich zu ungeduldig, mit zu kurzem Atem ausgestattet, habe mit mir gehadert – aber irgendwann habe ich eingesehen, dass ich einfach kein masochistisches Leseverhalten besitze, sondern ein schlichtes Gemüt bin bei der Auswahl meiner literarischen Hochgenüsse: Entweder, ein Buch schafft es, mich thematisch oder stilistisch gefangen zu nehmen, idealerweise natürlich beides – oder eben nicht. Und dann bin ich auch nach mehreren Anläufen und doch nur 35 geschafften Seiten bereit, zu sagen: Meins ist das nicht. Entschuldigung.
Im Netz habe ich zwei ausführlichere Besprechungen gefunden. Interessanterweise sehr konträre: Die eine, von der BR KulturBühne, sehr positiv – dort wird das Werk gar von Cornelia Zetzsche wie folgt beschrieben: „Ein kluges Lesevergnügen für Leser*innen mit abgründigem Humor – einzigartig!“; die andere von der taz, sehr meinem Gefühl entsprechend, eher verständnislos. Wenn Julia Hubernagel dort schreibt: „Derart langatmig lässt Margwelaschwili seine Leselebenswelt entstehen, dass einem beinahe der Verdacht kommt, die ständigen Wiederholungen seien Absicht, oder dahinter steckt ein Komplott eines Buchweltbösewichts, der dem Roman absichtlich Leserinnen entziehen will.“ spricht sie mir zu 100 % aus dem Herzen und hat in diesem einen Satz mehr Wortgewandtheit und Sprachschönheit bewiesen, als in den ganzen ersten 35 Seiten des Werkes zu finden gewesen wären.
Ich halte es für absolut möglich, dass es für Leser*innen mit einem längeren Atem auch Momente der Lesefreude mit diesem Buch geben kann, Menschen, die mehr von Literaturtheorien verstehen als ich. Schon im Germanistikstudium hat es mich zu Tode gelangweilt, mir theoretische Ansätze einverleiben zu müssen, um Bücher „verstehen zu können“. Wenn man Bücher erst mit einer staubtrockenen Anleitung verstehen kann, sind es für mich keine guten Bücher. Dass man anhand solcher Theorien weitere Ebenen des Textes kennenlernen kann, ist unbestreitbar korrekt; lässt sich aber keine Ebene ohne literaturwissenschaftliche Vorbildung verstehen oder gar finden, ist dies für mich ein klares Indiz dafür, dass ein Text nicht gut funktioniert. Leser*innen sollten Romane beim Lesen verstehen können und nicht dafür arbeiten müssen.
Die euphorische Präsentatorin beim Online-Verlagsabend sagte sinngemäß, sie empfände eine große Liebe zu diesem einzigartigen Werk und wünsche dem Buch noch viel, viel mehr Liebe. Damit hatte sie mich und ich war mehr als bereit, dem Buch meine Liebe zu schenken, allein, es hat nicht sollen sein. ☹
Versucht es gerne dennoch und schreibt mir Eure Meinung – denn Buchbesprechungen sind nun mal eine sehr subjektive Angelegenheit.
„Der Leselebenstintensee“ von Giwi Margwelaschwili ist 2021 im Verbrecher Verlag als Hardcover erschienen. Informationen zum Titel und dem Verlag durch einen Doppelklick auf das Buchcover oder den Verlagsnamen.
Oh, lieber Alexander, das freut mich wirklich sehr 🙂 Ich hab mich nämlich schwer damit getan, überhaupt etwas dazu zu schreiben, weil ich nicht „Verlagsbashing“ betreiben wollte – den Verlag schätze ich nämlich sehr! Aber man darf ja auch nicht immer nur alles loben, sondern muss auch mal ehrlich sein eigenes Scheitern schildern bzw. thematisieren, dass manche Bücher einfach nicht die passende Lektüre sind …
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Also, diese Besprechung fand ich fabelhaft! Ein gescheiterter Leseversuch, der dennoch sehr informativ ist. Ich bin nicht wirklich motiviert, in dieses Buch hineinzulesen, aber nun bin ich aufmerksam auf es geworden und habe mich während des Lesens dieses Beitrages köstlich amüsiert. Wirklich toll. Viele Grüße.
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Innteressant. kA, hatte immer nur Softcover… Kann mir das Design als Harcover gar nicht richtig vorstellen 😀
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Alle meine Verbrecherbücher sind Hardcover 😉
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Hat wenig mit dem Buch zu tun, aber ich wusste gar nicht, dass der Verbrecher Verlag auch Hardcover macht. Verbinde den ausschließlich mit diesen handlichen, optisch einheitlich gestalteten, Taschenbüchern.
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