Aufzeichnungen einer Hofdame

9783717524885

Manchmal passieren ja schräge Dinge, die dazu führen, dass man ein bestimmtes Buch vor sich liegen hat. Diesmal war es meine leicht schusselige Art, Beschreibungen nur zu überfliegen. Was da auf der U4 stand:

„Aus der Distanz von 1000 Jahren lässt uns die erste Bloggerin der Weltliteratur […]“ – weiter unten dann ein Zitat von Lukas Bärfuss: „Eine japanische Kostbarkeit.“

Was bei mir ankam: Ah! Die erste japanische Internet-Bloggerin, die vom kaiserlichen Hofe berichtet. Cool!

Überlesen hatte ich glatt den Fakt, dass da der Zusatz „aus der Distanz von 1000 Jahren“ stand ;-). Ein Klassiker und sehr typisch für mich: Mal kurz anlesen und denken, man habe alles erfasst, doch Pustekuchen 😉

Aber so kam ich an diesen sehr bibliophil aufgemachten Band der Manesse Bibliothek, zu dem ich sonst, wegen des doch sehr speziellen Themas, sicherlich nicht gegriffen hätte. Schade wäre das gewesen, denn das Buch präsentiert sich edel: wunderschöner Schutzumschlag, Lesebändchen, farblich gestalteter Vorsatz mit passendem Überzug – und das alles auch noch „Made in Germany“. Das wirkt alles schon sehr wertig.

Sei Shōnagon ist die Autorin dieses Werkes der frühen japanischen Literaturgeschichte. Sie kam etwa 966 auf die Welt, wie man aus dem ausführlichen Nachwort des Übersetzers Michael Stein erfährt, und ist noch heute eine feste Größe in der Literatur Japans. Selbst Schulkinder, so erläutert der Fachmann, der selbst in Tokyo lebt, wissen sofort, wer gemeint ist und wie das Werk heißt, für das sie berühmt wurde: „Kopfkissenbuch“.

Sei Shōnagon schreibt eine Art Tagebuch, sie skizziert darin auf sehr einfache, aber charmante Weise den Alltag, aber auch besondere Begebenheiten und Begegnungen, die ihr im Dunstkreis des japanischen Kaiserhofs der Heian-Zeit widerfahren. Erstaunlich fortschrittlich wirkt die Tatsache, dass Sei Shōnagon zwar früh heiratete, wie das damals üblich war, es aber kurz nach der Geburt ihres ersten Sohnes zur Trennung von dem unliebsamen Ehegatten Norimitsu kam. Sie heiratete erneut und bekam eine Tochter – kurz darauf folgte sie dem Ruf der Kaiserin Sasako, an ihrem Hof in ihre Dienste zu treten. Voller Begeisterung nahm sie diese ehrenvolle Anfrage an und begann, am Hofe der Kaiserin als Hofdame zu leben.

Was hier beschrieben wird, sind keine großartigen Momente der Weltgeschichte, sondern kleine Berichte über das Leben und seinen Lauf. Sei Shōnagon schreibt über Feiertage und wie diese ihrer Empfindung nach abzulaufen haben: So gibt es ihrer Meinung nach ein passendes Wetter zu jedem Fest. Manche Feste brauchen dramatische Wolken, manche den Sonnenschein. Recht hat sie 🙂

Man erhält Einblicke in das Verhältnis der Japaner zu ihren Haustieren, man liest von Unterhaltungen, von Witzen, von Ritualen am Hofe, Kleinigkeiten, die in Summe aber wiederum eine Fülle an Informationen über die damalige Zeit darstellen. Die Hofdame beschreibt, was sie erschreckt:

Wenn man ohne Rücksicht auf den Betreffenden über etwas redet, was für ihn peinlich und alles andere als schmeichelhaft ist.

Sie erzählt, was sie enttäuscht:

Man hat sämtliche Vorbereitungen für eine Feier getroffen und wartet nun ungeduldig nur noch darauf, dass es losght, doch dann kommt irgendetwas dazwischen, un die Sache wird urplötzlich abgesagt.

Herrlich banal, aber genau deshalb interessant: Sei Shōnagon macht nämlich in der Tat das, was moderne Bloggerinnen, die ihr Leben in den Mittelpunkt ihrer Berichterstattung stellen, heute auch tun – sie erhebt durch die bloße Erwähnung des Geschehenen Banales und Alltägliches auf ein höheres Level und gibt diesen Dingen somit eine (vermeintlich) tiefere Bedeutung. Man kann den heutigen Lifestylebloggerinnen in diesem Falle nur wünschen, dass ihre Texte eine ähnlich lange Halbwertzeit erreichen, wie die der Hofdame Sei Shōnagon 😉

Ich bin ganz ehrlich und behaupte nicht, ich hätte das gesamte Buch durchgelesen – dazu war es mir doch zu speziell – aber ich hatte große Freude daran, in die 507 Seiten „Kopfkissenbericht“ hineinzuschmökern. An das eigentliche Werk schließt sich ein umfangreicher, sehr fundierter Anhang an: Anmerkungen, Nachwort, Glossar und Personenverzeichnis stellen für den Freund der japanischen Literatur eine große Schatztruhe an Hintergrundinformationen und Zusatzwissen dar.

„Kopfkissenbuch“ von Sei Shōnagon wurde für die vorliegende Ausgabe von Michael Stein erstmals vollständig aus dem Japanischen übersetzt, ausführlich kommentiert und neu herausgegeben.

Das Buch ist 2019 im Manesse Verlag erschienen. Mehr Informationen über einen Klick auf das Cover zum Buch oder über die Verlagsseite.

3 Gedanken zu “Aufzeichnungen einer Hofdame

  1. Pingback: Eskapismus in Schönheit | Feiner reiner Buchstoff

  2. mE ist das mit der „Bloggerin“ ein absolut unnötiger Werbegag. Das trivialisiert ein Werk, dass in seiner Sprache, der Dichtheit der Beschreibungen, der Lebendigkeit der Figuren, zu den ganz großen der Weltliteratur zählt (Klar KANN auch mal ein Blog sehr kunstvoll gearbeitet sein, aber das ist nicht das Zentrale, das mit dem Begriff verbunden wird). Tagebücher oder fortlaufende Notizen gab es auch schon lang vor dem Internet. Aber Das Kopfkissenbuch ist ja noch nichtmal ein Tagebuch, sondern eine bewusst Arrangierte Kompilation rückblickend aufgeschriebener Erinnerungen.
    Naja. Wenn der Werbegag dem Buch neue Leser bringt, solls mir recht sein.

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