Theodora Dimova hat basierend auf einem authentischen Kriminalfall aus dem Jahre 1990, in dem sieben Jugendliche ihre Lehrerin ermordeten, ein Sittenbild der nach der Wende in Bulgarien zerfallenden Familien gezeichnet. In Verhörprotokollen und Gesprächen mit Psychologen offenbaren diese Schulkinder die (fiktiven) Abgründe, die zu einer solch brutalen Wahnsinnstat geführt haben könnten: Sie erzählen von ihren dysfunktionalen Familien, den Grausamkeiten ihres Umfeldes, insbesondere ihrer Eltern und hier auch mit Fokus auf die Mütter, die titelgebend für diesen Roman sind.
In einem großartigen Psychogramm schildert die Autorin sieben unterschiedliche Einzelschicksale von Kindern, die genauso gut zur heutigen Zeit in unserer Gesellschaft hätten stattfinden können, und wie diese als Ursache zu unfassbar heftigen Aggressionen, mangelnder Frustrationstoleranz, Verlustängsten, gestörtem Verhältnis zur Umwelt über massive psychische Störungen bis zur Übertragung all dieser Gefühle von Verzweiflung, (unerwiderter) Liebe, Angst, Wut und Hass auf die Lehrerin als Projektionsfläche beitragen.
Während der psychologischen Untersuchung der Jugendlichen deckt die Autorin sehr einfühlsam unfassbare Abgründe von falscher Erziehung, Vernachlässigung und Missbrauch auf, die durch den jugendlichen lapidaren Erzählton fast noch grausamer wirken, als sie ohnehin schon sind: So kann sich die co-abhängige Dana nicht von ihrem alkoholkranken Vater lösen, als ihre Mutter nach Jahren der Arbeit im Ausland endlich heimkommt und sie aus ihrer Situation erretten möchte. Die Zwillinge Dejan und Bojana werden infolge eines Rosenkriegs der Eltern nachhaltig voneinander getrennt und gegeneinander aufgehetzt. Die leicht zuckerkranke Petja will sich nicht um ihre Tochter Kalina kümmern und überlässt die Obsorge der Großmutter. Als die Oma einen Schlaganfall erleidet, muss die jugendliche Kalina beide – Mutter und Großmutter – pflegen, den Haushalt wuppen und die Schule managen, was sie zutiefst überfordert. Andrejas Mutter ist schwerst psychotisch und depressiv, sie zieht ihre Tochter in den Strudel ihrer Krankheit.
Warum, warum, warum, Gott hast Du den anderen Kindern Mütter gegeben und mir nur dieses Wrack, diesen Abschaum, vernichtet durch die unauslöschliche Krankheit der Seele, warum ist es diesem Abschaum nicht gelungen, mit der Wunde der Seele fertig zu werden, während es anderen gelang, warum ließ sie sich so mit Alkohol vollaufen, was fehlte ihr, was wollte sie, sie hatte mich, Papa, ihre Arbeit, war das letztlich nicht genug, was mehr kann ein Mensch vom Leben verlangen, und woher kam ihre Krankheit, das ganze Unglück, das von ihr ausging, der Niedergang, der Verfall […]
[…] sag es mir, und Christina antwortete: Ich wache morgens auf, als würde ich aus einem Teerfass voller Trauer geholt, es fällt mir sogar schwer, zu atmen, ich spüre eine physische Erschöpfung, als hätte ich den ganzen Tag gearbeitet, und alles ist schwarz, schwarz, schwarz, und ich will nicht aufstehen, und ich will nicht mehr atmen, und nichts kann mich freuen, […].
Dies sind nur ein paar der traumatisierenden Biografien, die sich in mein Gedächtnis eingebrannt haben, auch kleinere Kalamitäten, Erziehungsfehler und unfassbarer Egoismus, insbesondere der Mütter, werden thematisiert.
Die Biografien sind zwar bei allen Kindern detailliert und in psychologischer Tiefe geschildert, die Beziehung eines jeden Einzelnen zur allseits geliebten Lehrerin Javora war mir aber ein bisschen zu ungenau ausgeführt. Trotz dieses Umstandes hat die Autorin am Ende aber dennoch sehr klar dargelegt, warum und durch welche Mechanismen die Lehrerin sterben musste.
Sprachlich war der Roman ein kleines bisschen mühsam und gewöhnungsbedürftig, wobei ich nicht weiß, ob dies am Stil der Autorin oder an der Übersetzung lag. Stilistisch werden Kommaexzesse, Hauptsatzperlenketten und Aufzählungsmanien angewandt, als dürfe man den Punkt als Satzzeichen nur in äußersten Notfällen verwenden.
Fazit: Ein sehr gutes Psychogramm von dysfunktionalen Familien und den Auswirkungen auf Kinder bzw. Jugendliche mit ein paar sprachlichen und satztechnischen Stolpersteinen im Stil, über die man/frau als Leser*in aber hinwegkommen kann. Ich freue mich sehr, dass ich durch meine EU-Autorinnenchallenge wieder mal ein neues Werk und eine mir unbekannte Autorin aus Bulgarien entdecken durfte. Es hat sich gelohnt, insofern gibt es von mir eine Leseempfehlung!
Im Rahmen des Korrekturlesens wurde ich noch auf ein weiteres Problem aufmerksam gemacht. Meine Lesefreundin und Mitstreiterin hier auf dem Blog Thursdaynext gab zu bedenken, „dass es immer und immer wieder die Mütter sind, die ihre Pflicht und Aufgaben verletzt haben, was sie sicher auch in diesen Fällen fürchterlich getan haben, aber mir fehlen da immer die verdammten Väter, von denen niemand diese Aufopferung verlangt.“ Da muss ich ihr leider zustimmen, die Autorin hat diese Stereotype nicht so sehr in den einzelnen Kapiteln des Romans angewandt, denn dort werden die Missetaten der Väter genauso angeprangert und halten sich auch in etwa die Waage, aber der Titel des Buchs fokussiert dann wieder punktgenau die Verfehlungen der Mütter. Insofern ist also der Buchtitel wirklich sehr schlecht gewählt, weil er vorab schon die verantwortlichen Mütter und typische patriachalische Rollen definiert.
Die Mütter von Theodora Dimova ist 2014 im Wieser Verlag als Taschenbuch erschienen. Nähere Infos zum Buch über einen Klick auf das Cover im Beitrag oder auf der Verlagsseite.
hach, mit Erlaubnis zwick ich gerne und du darfst geren auch zurückzwicken, mir fällt es sehr oft auch nicht auf. Arbeitsbedingt versuche ich Rollenklischees durchlässiger zu machen und stelle viel zu oft fest, dass sie sich bei den kids sehr feste verankert haben. Ein Rollentausch und sei es auch nur in einem szenisch umgestzten Lied fällt den Lütten anfangs oft schwer, sie mullen und knullen dann bis sie es ausprobiert haben und siehe da, Mädchen- Jungsrollen sind nicht festzementiert man kann switchen und das finde ich immer sehr wichtig als Erfahrung für die kids.
LG
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@bluesforuse ich dachte ursprünglich auch, dass mich meine Challenges mehr stressen würden, da ich ja neben den Rezensionsexemplaren eine neue Front des nicht selbstbestimmten Lesens aufgemacht habe, aber es hat mir so viel Spass gemacht, dass ich unbedingt weitermachen wollte. ich komm mir vor wie ein literarischer Forscher, der mit der Lupe in total neue Welten aufbricht 🙂
Ich kenn Dein Problem mit dem unhinterfragten Geschlechterrollenbild und viel zu oft fällt es mir als 50+ – eigentlich nicht Feministin und jetzt erst im Alter aber doch von Tag zu Tag stärkere Feministin – auf, dass auch ich manchmal wie ferngesteuert diese Rollenklischees nicht hinterfrage, deshalb auch ein herzlicher Dank an Dich, denn ich lerne immer gerne dazu, vor allem wenn ich so alte Muster oft nicht erkennen kann. Zwick mi immer in dieser Situation 😉
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Danke Awogfli für das Statement. Ich finde es immer wieder beachtenswert was für Challenges du dir gibst. Übrigens, ich merke es selbst an mir, dieses meist unhinterfragte Geschlechterrollenbild. Rate mal welches Elternteil automatisch zuerst angerufen wird, wenn ein erkranktes Kind abgeholt werden muss? … Genau! Es lohnt sich immer wieder solche eingefahrenen Haltungen zu hinterfragen, auch wenn ich damit wohl manchen Kolleginnen auf die Nerven gehe (nicht dir, direkten) 😉
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