Book2movie – Der Fall Collini

Sehr gespannt habe ich die filmische Umsetzung von Schirachs Roman erwartet, der kürzlich in die Kinos kam und ich muss sagen, es lohnt sich beides: sowohl den Roman zu lesen, als auch den Film zu sehen. Im Anschluss möchte ich einen detaillierten Book2movie-Vergleich anstellen.

Das Buch – ein grandioses Justizdrama, das seinesgleichen sucht

Der Roman ist wahrscheinlich das realistischste und eines der spannendsten Werke, die ich jemals in diesem Bereich gelesen habe. Fabrizio Collini hat den Industriellen Jean Baptiste Meyer mit mehreren Schüssen hingerichtet und der total unerfahrene Rechtsanwalt Caspar Leinen übernimmt den Fall im Rahmen eines Wochenendnotdienstes. Relativ schnell wird dem jungen Mann, der zwar kompetent und engagiert, aber bezüglich der praktischen Prozessregeln noch etwas grün hinter den Ohren ist, klar, dass er sich einen Bärendienst erwiesen hat, indem er vorschnell die Pflichtverteidigung angenommen hat, da es sich beim Opfer um seinen väterlichen Freund Hans Meyer handelt, und er sehr stark in die Angelegenheiten der Familie des Opfers involviert ist.

Ganz zu Beginn legt der Autor also dem Leser die essentielle Berufungsfrage eines jeden Strafverteidigers klar: Wie kann man einen Mörder seine Rechte auf faire Verteidigung zugestehen, insbesondere wenn man eigentlich auf Seite der Opfer sein müsste. Dieses spannende Thema wird sehr gut und genau mit allen moralischen Sichtweisen aufgearbeitet. Die Handlung erlebt noch ein paar weitere Kehrtwendungen. Der Täter Fabrizio Collini ist zwar klar, er gibt den Mord sogar unumwunden zu, aber das Motiv liegt völlig im Dunkeln. Es besteht keine Verbindung zwischen Täter und Opfer und der Beschuldigte schweigt hartnäckig. Als das Motiv letztendlich überraschend offenbar wird, wirft es ein völlig anderes Licht auf die Tat und auf eine Korrumpierung des deutschen Justizsystems, die in der Realität tatsächlich stattgefunden hat. Hier wird punktgenau der Finger in eine klaffende historische Wunde gebohrt, dass vor Gericht Recht zu bekommen im Gegensatz zu Gerechtigkeit erfahren zwei völlig unterschiedliche Tatbestände sein können. Das Kernthema des Autors: Schuld und Sühne, Recht und Gerechtigkeit, das sich wie ein roter Faden durch alle Romane Schirachs zieht, wird wieder mal grandios aufgearbeitet.

Ich gestehe, seit Jahren bin ich ein richtiggehender Schirach Fan. Ich liebe seinen juristisch minimalistischen schnörkellosen Erzählstil, die genauen Beschreibungen, die eben aber nicht blumig romancierhaft, sondern detailgetreu analytisch sind. Dieser Gerichtssaalkrimi ist so total anders als alles, was ich jemals in diesem Genre gelesen habe, kein Funken Humor, sondern todernst, knochentrocken, kein Lokalkolorit, obwohl die Orte in Berlin Moabit detailgetreu geschildert werden, keine nordische Düsternis und Präsentation vieler Verdächtiger … ihr glaubt, das ist zu wenig spektakulär? Ihr irrt Euch gewaltig!

Weiters habe ich trotz der vielen David Hunter Romane von Simon Beckett noch nie so hautnah und genau an einer Obduktion teilgenommen, wie in diesem Buch. Von der Abwaage eines jeden Organs über jedes Detail im Rechtsanwaltsaufenthaltszimmer des Gerichts bis zu den Anwaltssprechzellen für die Häftlinge ist alles mit einer beispiellosen Genauigkeit beschrieben, die ich an diesem Autor so sehr schätze.

Sie gingen in die Sprechzelle. Der Raum war zu zwei Dritteln mit gelber Ölfarbe gestrichen, ein Resopaltisch, zwei Stühle, ein Waschbecken. An der Stirnseite, weit oben, ein kleines Fenster, der Aschenbecher war eine leere Keksdose aus Blech, neben der Tür ein roter Alarmknopf. Es roch nach Zigaretten, Essen und Schweiß. Collini gegenüber. Er trug die blaue Anstaltskleidung, die  Mordkommission hatte ihm seine Sachen abgenommen.

Die Figuren Caspar Leinen, die Jugendfreundin Leinens, Enkelin des Opfers und Nebenklägerin Johanna Meyer, der Professor und Anwalt der Nebenklägerin Richard Mattinger, der Täter Fabrizio Collini, sie alle sind sehr distanziert, sachlich und unterkühlt konzipiert. Doch trotz dieses enormen Abstands, den der Autor aufbaut, entwickelte ich als Leserin mit ausgeprägtem Gerechtigkeitsgefühl sehr viel Mitgefühl für den Täter. Solche Ambivalenzen erzeugt Schirach in seinen Romanen und Kurzgeschichten gerne spielerisch beim Leser.

Fazit: Eine atemberaubende Story mit Reduktion auf das Wesentliche, und sehr vielen Anstößen zur Reflexion. Für Krimifans, die auch ab und an nichts gegen ein Gerichtssaaldrama haben, ein absolutes Muss!

Der Film  – Gut, mit Stärken, aber auch einigen Schwächen.

Vergleicht man Buch und Film, dann gibt es einige wesentliche Abweichungen von der literarischen Vorlage, die mir allesamt bedauerlicherweise gar nicht gefallen haben, da sie leichte Inkonsistenzen bzw. Irritationen hervorrufen und teilweise sachlich nicht realistisch sind.

Zuerst einmal wurden die Biografien der Protagonisten Leinen und Mattinger wegen der Schauspieler Elias M’Barek und Heiner Lauterbach umgeschrieben. Caspar Leinen hat also plötzlich türkischen Migrationshintergrund und man fragt sich, wie sich dieser Unterschichtsjunge so in das Herz eines Großindustriellen mit Nazivergangenheit einnisten konnte. Weiters wird der jugendliche M’Barek von einem Schauspieler gespielt, der eindeutig indische Züge trägt. Das kam mir immer so vor, als würde hier permanent ein Regieanschlussfehler vorliegen. Auch Mattinger ist nicht mehr wie in der Vorlage behindert, sein Arm fehlt nicht mehr. Dieser Umstand hat zwar keinen wesentlich Einfluss auf den Plot, aber ich frage mich schon, warum man hier von der Vorlage abweichen musste. War es Eitelkeit?

Abgesehen von diesen Details, die eben besagte Irritationen bei mir hervorriefen, haben beide Schauspieler gute Leistungen erbracht, die feinen Nuancen von Gefühlen, die sich in den Gesichtern spiegeln und die durch die sehr gute Kameraführung ganz in den Fokus gerückt werden, sind großes Kino. Ich war von beiden Schauspielern positiv überrascht, verortete ich die beiden bisher eher im Fach seichte Comedy. Ach ja die Kameraleistung im Film ist auch sehr außergewöhnlich, sehr oft verschwimmt der Hintergrund durch Weichzeichner, um eben genau die Zentralhandlung oder die zentralen Protagonisten hervorzuheben. So ein Stilmittel habe ich bisher sehr selten und noch nie so punktgenau eingesetzt gesehen.

Zwei weitere Änderungen im Plot laufen der analytischen Sachlichkeit von Schirach, dem Realismus des Gerichtsalltags, und dem gesamten Konzept des Romans zuwider. Da wäre die Recherche von Caspar Leinen zum Fall Collini direkt im italienischen Dorf. Ganz selten recherchieren Strafverteidiger persönlich vor Ort, dafür haben sie ihre Detektive, sie bleiben an den Schreibtischen und wühlen in Berichten bzw. in den Archiven. Insofern ist das Ausheben der historischen Akten im NS-Archiv in Ludwigsburg, wie es im Roman dargestellt wird, weitaus glaubwürdiger als die Fahrt nach Italien, wie sie im Film konzipiert wurde. Der zweite Punkt ist die Dauer des spektakulären Mordprozesses von der Tat bis zum Urteil. Im Buch zieht sich dieser Vorgang wie in der Realität sehr lange, zwischendurch kann Caspar Leinen durch seine Popularität wegen des Falles sogar einige potente Fälle und Mandanten an Land ziehen und deren Verfahren einleiten. Im Film scheint es so, als ob sich das ganze innerhalb kürzester Zeit abspielen würde. Das ist völlig außerhalb der gängigen Praxis in Mordprozessen.

Fazit: Trotz der Kritikpunkte ein spannender Film, was natürlich hauptsächlich an der Qualität der literarischen Vorlage liegt. Kennt man den Roman von Schirach nicht, würden der Unterschied und die Inkonsistenzen einem Laien gar nicht auffallen.

Zur Frage ob ich den Film oder das Buch favorisieren möchte, schlägt diesmal eindeutig mein Herz für das Buch.

Der Fall Collini von Ferdinand von Schirach ist 2019 im btb Verlag in flexiblem Einband neu aufgelegt worden. Nähere Infos zum Buch über einen Klick auf das Cover im Beitrag oder auf der Verlagsseite.

2 Gedanken zu “Book2movie – Der Fall Collini

  1. Ich habe den Film immer noch nicht gesehen, aber das Buch noch als großes Highlight in Erinnerung. Wahrscheinlich werde ich das Buch zuerst noch einmal lesen und dann noch schnell ins Kino gehen. Bin da ganz bei dir. Ich liebe den Stil und die Bücher von von Schirach. Er schreibt einfach genial!

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