Willowdean Dickson ist 16 Jahre alt, wie ihre beste Freundin Ellen ein absolutes Dolly-Parton-Fangirl, glücklich und, wie sie selbst von sich sagt, die Dicke vom Dienst. Neben der gemeinsamen Liebe zu Dollys Musik teilen Will – wie sie von ihren Freund*innen genannt wird – und Ellen so manches Geheimnis, wie man das eben als Teenager so tut. Zu Hause gibt es da noch Wills Mum, deren Spitzname für ihre Tochter nicht eben schmeichelhaft, aber von ihr nicht boshaft gemeint ist. Dumplin‘ – im Lauf der Geschichte zeigt sich immer mehr, dass dieser Name für Wills Mum eigentlich ein Kosename ist, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so aussieht. Im Großen und Ganzen ist Wills Welt in Ordnung und sie selbst fühlt sich durchaus wohl mit sich. Allerdings gibt es auch eine Lücke in ihrem Leben: ihre viel zu früh verstorbene Tante, Schwester ihrer Mom, die ihr außer der großen Verehrung für die Musik und die Person Dolly Partons auch deren Motto eingeimpft hat: Find out who you are and do it on purpose – Finde heraus wer Du bist und sei es absichtlich.
Wenn man verstehen will, wer man ist, gehört es manchmal dazu, sich klar zu machen, dass wir aus einem Mosaik von Erfahrungen bestehen. Ich bin Dumplin‘. Und Will und Willowdean. Ich bin dick. Ich bin glücklich. Ich bin unsicher. Ich traue mich alles.
Was die Mutter-Tochter-Beziehung angeht, unterscheidet sie sich zunächst einmal nicht von anderen. Welcher Teenager kann schon von sich behaupten, nie mit seinen Eltern aneinanderzugeraten? Doch Wills Mum ist eine ehemalige Gewinnerin des Miss Teen Bluebonnet Schönheitswettbewerbs, als sie so alt war, wie ihre Tochter jetzt. Die Veranstaltung ist für die texanische Kleinstadt ein alljährliches Highlight und Rosie, Wills Mum, ist auch noch die Organisatorin und damit eine Berühmtheit in Clover / Texas – denn sie schafft es doch tatsächlich jedes Jahr aufs Neue, sich in ihrem damaligen Ballkleid zu präsentieren …
Wer jetzt denkt, nun alles schön und gut, ein Jugendbuch wie so viele andere. Tochter-Mutter-Konflikt, Schöhnheitswettbewerb, Äußerlichkeiten und so weiter, das gibt es doch schon zuhauf, sicherlich kommt dann noch die junge männliche Sportskanone dazu, in die sich Will unsterblich verliebt und alles läuft auf ein unglaubwürdiges aber glückliches Ende hinaus, der liegt zum großen Teil falsch. Ja, da gibt es einen jungen Mann, den Will mag und der sie ebenso gern mag und es ihr unmissverständlich zeigt, aber anders als bei vielen dieser heute so komplett unfeministisch gestrickten Jugendromanzen, wirft sich die Protagonistin in diesem ungewöhnlichen, frischen, humorvollen Pageturner nicht einfach dem jungen Helden vor die Füße. Ganz im Gegenteil. Hier geht es richtig zur Sache, was Identität, Selbstbewusstsein, Mobbing, Freundschaft und auch das Erwachsenwerden angeht.
Es betrifft jeden und jede
Will ist, was ihr Aussehen angeht, nicht unglücklich. Eigentlich fühlt sie sich recht wohl in ihrer Haut. Unterstützung in dieser Hinsicht hatte sie immer von ihrer Tante Lucy und deren Idol Dolly Parton, die einfach immer das tut, was sie möchte und sich dabei treu bleibt. Egal, was die anderen Menschen von ihr denken, geht sie unbeirrt ihren Weg. So auch Will. Ihr reicht es, eine beste Freundin in Ellen zu haben, mit der sie über alles reden kann. Sie muss nicht mit jedem und jeder befreundet sein. Doch als Bo, der mit ihr im Diner arbeitet, sich für sie interessiert, verändert sich etwas in ihrer Wahrnehmung. Erst durch ihn fühlt sie sich unsicher, macht sich Gedanken darüber, was die Leute wohl sagen, würden sie die beiden Händchen halten sehen. Wenn wir ehrlich sind, dann kennen wir durch die Bank alle dieses Gefühl der Unsicherheit gegenüber gerade den Menschen, die wir sehr mögen, die uns aber vielleicht noch nicht so recht vertraut sind. Diese Erfahrung zu machen, gehört zum Erwachsenwerden dazu und im besten Fall gehen wir gestärkt aus dieser Lebensphase.
„Ich schüttele den Kopf, weil ich es nicht begreife. »Hast Du Dir schon mal überlegt, was die Leute denken werden? Was sie sagen werden, wenn sie sehen, wie wir beide Händchen halten?«
Miss Teen Bluebonnett
Und aus diesen Gedanken heraus entwickelt Willowdean die Idee, sich für den von ihrer Mum organisierten Schönheitswettbewerb anzumelden. Denn schließlich steht nirgendwo in den Statuten, dass man ein gewisses Höchstgewicht haben muss, um teilnehmen zu können. Denn Schönheit ist etwas absolut individuell eingeschätztes und hängt sicherlich nicht von irgendwelchen Normen ab. Allerdings wird einem heutzutage auf Schritt und Tritt suggeriert, dass eine Norm das Erstrebenswerte sei. Das ist ein immenser Druck, der da vor allem auf jungen Menschen liegt, die sich selbst ja erst noch finden müssen. Medien aller Arten, TV-Formate, soziale Medien – tagtäglich und ständig geistern Bilder von makellosen Schönheiten um uns herum. Gerade deshalb ist Julie Murphys Dumplin‘ ein wahrer Segen. Ein Mädchen, das ein hervorragendes Rollenmodell abgibt, weil es reflektiert und sich nicht davor scheut, sich selbst auf dem Silbertablett zu präsentieren, immer gewahr der Tatsache, dass man über sie herfallen könnte. Und nicht genug damit, Will ermutigt mit ihrer Aktion noch weitere Mädchen, sich ihr anzuschließen.
Julie Murphy hat in ihren wundervollen Roman so vieles gepackt, was junge Menschen betrifft, verunsichert und beschäftigt, dass es nicht verwunderlich wäre, hätte sie sich verzettelt. Doch das hat sie in keinster Weise. Sie hält die unterschiedlichen Fäden der Handlung stets fest in der Hand und webt daraus einen klugen, spannenden, witzigen und warmherzigen Stoff, ohne jemals laue Allgemeinplätze oder abgedroschene Klischees zu bedienen. Immer im Mittelpunkt dieses außergewöhnliche Mädchen, das uns die Geschichte mit ihrer eigenen Stimme präsentiert und das ganz direkt und quasi in Echtzeit.
Rücken stärken statt in Watte packen
Dem Wunsch junger Menschen, sich die Welt auf eigenen Wegen zu erobern, steht häufig die elterliche Angst vor Verletzungen entgegen. Dann wird in Watte gepackt, aus unangenehmen Situationen rausgenommen, versucht auf keinen Fall aufzufallen oder anzuecken. Das ist verständlich und auf keinen Fall verwerflich, doch ob es sinnvoll und zielführend ist, darüber kann man streiten. Bo – der sportliche junge Mann, der sich in Willowdean verliebt hat, sieht es ähnlich:
»Willowdean Opal Dickson, du bist schön. Scheiß auf alle, die dir jemals etwas anderes vermittelt haben.« Seine Brust hebt sich. »Wenn ich die Augen zumache, sehe ich dich. Mit dir kann ich reden. So wie ich es noch mit niemandem konnte.«
Schönheit kann so vieles sein. Und jeder Mensch trägt etwas davon in sich. Wenn man das mit der Tatsache, dass Neid, Mobbing oder ähnliches immer damit zu tun haben, dass bei denen, die sich dieses Mittels bedienen, selbst etwas nicht stimmt und den nicht in eine Norm passenden jungen Menschen eine Rückenstärkung mitgeben kann, dann ist schon viel gewonnen. Denn was Mobbing so stark macht, sind die, die es erdulden, applaudieren oder einfach dabeistehen. Die aktiven Mobber sind, sieht man ganz genau hin, meist in der Unterzahl. Erst die Masse derer, die stumm dabeistehen und nichts dagegen tun, macht sie stark. Und genau deshalb muss man sich auch manchmal bewusst der Gefahr aussetzen, verletzt zu werden. Und die Eltern müssen das aushalten. Dasein ist erlaubt, zurückhalten nicht.
»Millie muss mitmachen. […] Sie hat eine dickere Haut, als man zuerst denkt. Alle hier, auch die Mädchen mit den langen Beinen und den glänzenden Haaren, wissen, was es bedeutet, wenn sich jemand über einen lustig macht. […] Selbst Ellen.« Ich deute auf meine Mutter. »Auch meine Mom weiß das. Aber wir können deswegen nicht die ganze Zeit mit eingezogenen Köpfen herumlaufen. So darf man die Dinge nicht angehen.«
Vollkommenheit existiert nur durch ihre Unvollkommenheit
Wie recht Will doch hat. Denn wenn wir immer versuchen zu gefallen, im Grunde immer verstecken, wer wir sind, dann können wir nicht glücklich sein. Willowdean Opal Dickson, die Julie Murphy so wundervoll, verletzlich, romantisch, witzig und klug geschaffen hat, ist für mich eine Heldin geworden, auch weil sie der Gleichförmigkeit und Oberflächlichkeit der jungen Frauen à la GNTM die Stirn bietet. All die anderen Figuren, die sie umgeben, zeigen die verschiedensten Facetten unseres Seins: was wir sein wollen genauso wie das, was wir sind und auch sein sollten. Dazu gehören Selbstbewusstsein, Mut und ein wenig Nachsicht mit sich selbst und anderen.
Ich glaube, manchmal besteht die Vollkommenheit, die wir an anderen sehen, in Wahrheit aus vielen kleinen Unvollkommenheiten, weil an manchen Tagen das verdammte Kleid einfach nicht zugehen will.
Dumplin‘ hat mich mitgenommen, zurückgebracht in meine eigene Jugend. Plötzlich war ich wieder da – dort wo ich genauso unsicher wie Willowdean, aber am Anfang eines aufregenden Lebens stand. Und es hat mich überrascht durch seine Botschaft, durch seine Frische, seinen Witz, seine Tiefe und Aufrichtigkeit. Vor allem aber hat es mich durch seine Klugheit überzeugt und beglückt.
Dass Disney das Filmprojekt letztendlich aufgab und Netflix den Stoff für den Film rettete – natürlich nur mit einem Original von Dolly Parton dafür geschriebenen Soundtrack – könnte man als Glücksfall und auch als Zeichen für Qualität sehen. Für mich ist das Buch ein wahres Regaljuwel und ideales Geschenk nicht nur junge Mädchen.
Dumplin‘ von Julie Murphy ist im März 2018 bei Fischer FJB neu aufgelegt worden. Weitere Informationen zum Buch über Doppelklick auf das im Beitrag abgebildete Cover oder direkt auf der Verlagsseite.