Wild und fröhlich und doch traurig und nicht ganz frei

Ich kann mich gut an einen gemeinsamen Kinobesuch mit meinen damaligen Mitbewohnerinnen in der Fünferstudenten WG erinnern, nach dem meine zwei Freundinnen etwas betrübt und geknickt nachdenklich inne hielten. Ich fand den Film ganz wunderbar, anders als die beiden, hatte mir gerade eben diese Balance zwischen der im Leben immer mal passierenden Traurigkeit der Umstände und der daraus entstehenden Schönheit so gut gefallen. Empfanden meine beiden Freundinnen den Film durchweg traurig, so hatte er für mich durchaus eine heitere Seite. Fortan wurde „heiter“ und mein Lesart dieses Wortes zum running gag zwischen uns, ein Insiderwitz, den wir heute noch gerne erinnern. Der Film um den es ging war Caroline Links Jenseits der Stille. Meist wird ihr Debüt als Filmdrama bezeichnet – für mich war es das wie gesagt nicht durchgängig. Dramatisch ja, Drama nein.
Erst kürzlich wieder hatte ich eine ähnliche Situation, jedoch im Bereich Musik. Eines meiner derzeit absoluten Lieblingslieder, das ich in Dauerschleife höre, Movement heißt es und ist für mich ein luzides, wunderbares Stück, das mir das Herz aufgehen lässt, obwohl eine gewisse Sehnsucht spürbar ist. Eine Freundin fragte mich, ob ich denn in solch einer traurigen Stimmung sei, dass ich dieses Lied derzeit gerne höre, und ich war bass erstaunt, denn bei mir löst gerade dieses Stück ein unglaubliches Glücksmoment aus. Neben Musik und Filmen gibt es auch immer wieder Bücher, die ich so empfinde. Manchmal ist es diese Art von Büchern, die mir so richtig rund und ausgewogen erscheinen, weil sie eben diese melancholische Seite nicht außer Acht lassen, die nicht so recht bei den Leser*innen ankommen wollen.

Welche Wege auch immer

Frost, Erna Piaf und der Heilige ist eines dieser Bücher, die mir das Leben, das Universum, wer auch immer tatsächlich in meine Hände gelegt hat, und die mich lange beschäftigen. Beschäftigen, weil sie mich begeistert haben und ich trotzdem – oder gerade deshalb – nicht die richtigen Worte finden kann, um sie angemessen vorzustellen. In der Buchhandlung hätte ich Richard Lorenz Buch wohl eher nicht in die Hand genommen. Das Cover – das nach erfolgter Lektüre zwar stimmig ist, aber eben nur einen Teil der Geschichte einfängt, hätte mich nicht erreicht. Das gebe ich unumwunden zu. Und deshalb bin ich um so dankbarer, dass der Inhalt es tat.

Gedichte für den (letzten) Frieden

Frost wächst in einer ländlichen Gegend auf, dort wo die Menschen sich mit all ihren Eigenheiten und Schrullen kennen. Er selbst besitzt eine Gabe, von der er zunächst nichts weiß und die ihn verunsichert: Die Gedichte, die er verfasst scheinen etwas an sich zu haben, das anderen Menschen Frieden gibt – den buchstäblichen letzten Frieden. Als er seiner seit langem kranken und bettlägerigen Großmutter daraus vorliest, verlässt sie diese Welt ganz friedlich und entspannt, ohne kämpfen zu müssen. Gar scheint es, als wäre sie glücklich. Ein Umstand, der dem Jungen erst einmal einen Schrecken einjagt, hat er doch das Gefühl, seine Großmutter umgebracht zu haben. Doch was für ihn so verstörend ist, war für seine Großmutter ein Segen und seine Gabe spricht sich langsam aber sicher im Dorf und außerhalb herum und so kommt es, dass seine Eltern ihn quasi auf Anfrage zu Menschen bringen, denen es mit Hilfe von Frosts Gedichten erleichtert werden soll, den letzten Weg hinaus aus unserer Materialität zu gehen.

Das Sterben und der Tod scheinen Frost auch später zu begleiten, denn er arbeitet in einem Hospiz. Dort sind es vor allem diejenigen, die von der Gesellschaft sonst ausgegrenzt werden, weil sie anders sind, nicht angepasst, nicht konform gehen. Obdachlose, Drogenabhängige, Alte, Kranke. Und dort findet Frost – der sich über seine Jugendjahre ein bisschen verloren hat, wieder. Er ist am richtigen Platz. Doch so ganz ist er immer noch nicht im Leben. Aber auch das ändert sich, als er Amelie kennenlernt. Doch zunächst, muss er absteigen, in die Tiefen, bevor er nach einer Reise mit Edith Piaf und dem Heiligen nach Paris loslassen und sein Leben heller wird.

Von Blau zu Schwarz zu Blau

Richard Lorenz hat mit der Geschichte um Frost nicht nur außergewöhnliche Charaktere geschaffen, die teils skurrile Leben führen. Sprachlich ausgefeilt, ohne manieriert zu sein, schafft er eine strahlende Wärme, die trotzdem von blau zu schwarz zu blau changiert – und glänzt. Die Dialoge sind griffig, die Figuren echt, ausgearbeitet, aber nicht zu sehr, so dass die Leserin keine Mühe hat, das Kopfkino anzuwerfen. Überhaupt kann man sich wunderbar hinein fallen lassen in diese Atmosphäre, die das Leben mit all seinen Seiten zeigt: von himmel hoch jauchzend bis zu Tode betrübt, allerdings eher in umgekehrter Reihenfolge. Denn Frost erlebt seine Liebe zu Amelie nicht in der üblichen Reihung von großem Herzflattern zu wohliger Gewöhnung. Es ist damit eher so ein bisschen wie bei Benjamin Button: Frost muss seine Zweifel, seine Melancholie erst einmal so richtig durchleben, um freier sein zu können. Das ist ungewöhnlich, funktioniert aber bestens. Und es hat etwas magisches, bezauberndes, das an manchen Stellen Bilder schafft, die direkt aus der fabelhaften Welt der Amelie stammen könnten. Trotz der zwar massiven, aber unaufdringlich geäußerten Kritik an unseren Gesellschaftsverhältnissen. Und gerade deshalb, weil es sprachlich ein solches Kleinod ist, lege ich es euch wärmstens ans Herz.

Beim nochmaligen Ansehen des Trailers von Jenseits der Stille ist mir aufgefallen, dass Lara – die junge Klarinettistin – gefragt, was sie an der Klezmermusik fasziniert, mit ihrer Antwort beschreibt, was auch mich fasziniert an den eingangs erwähnten Filmen oder Musikstücken und gleichzeitig umreißt es das, was für mich auch Lorenz Frost, Erna Piaf und der Heilige ausmacht:

Es ist so ein Gefühl. Sie ist in ihrem Herzen fröhlich und wild und gleichzeitig ist sie traurig und nicht wirklich frei. Und diese Verbindung, die kann ich gut verstehen.

Weitere Besprechungen finden sich auf Lesen macht glücklich und Sätze&Schätze

Frost, Erna Piaf und der Heilige von Richard Lorenz ist im Oktober 2016 bei Edition Phantasia erschienen. Für mehr Informationen zum Buch Klick auf das Cover oder direkt auf die Verlagsseite.

 

3 Gedanken zu “Wild und fröhlich und doch traurig und nicht ganz frei

  1. ist es auch. Es hat einen ganz eigenen Drive und wunderbar poetische Stellen. Die Sprache ist wirklich auserlesen schön. Ich wünschte, deutsche Verlage würden sich mehr trauen und solche Autoren mehr fördern, als teure Lizenzen zu kaufen …

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