Die coole Lady mit dem Schleier

csm_9783832198145_760740da36Der Wunsch, von Freunden deren Lieblingsbücher zum Geburtstag geschenkt zu bekommen, bescherte mir im Frühjahr ungewöhnliche, ganz anders geartete Literatur, als ich sie sonst lese. Bücher, an denen ich in der Buchhandlung vorbeigegangen wäre oder auf die ich schlicht nie gestoßen wäre, weil es keine Berührungspunkte mit den Themen gibt. Tolle Sache, mache ich nächstes Jahr wieder!

So kam ich über meine Freundin Rike dazu, „Weil wir längst woanders sind“ zu lesen. Rikes erklärter Vorsatz seit geraumer Zeit ist es, sich ein möglichst umfassendes Bild vom Islam und generell der arabischen Welt zu machen – und da sie Wissenschaftlerin durch und durch ist, geht sie das sehr strukturiert an. Sachbücher und Romane schmökert sie durch, Essays und wissenschaftliche Abhandlungen. Zu meinem Glück fiel ihre Wahl für mich auf einen Roman.

Die Autorin Rasha Khayat kann eine spannende Biografie ihr Eigen nennen: Geboren in Dortmund, wuchs sie in Saudi-Arabien auf und zog mit ihren Eltern im Alter von elf Jahren dann wieder zurück nach Deutschland. Ein Wandeln zwischen unterschiedlichsten Kulturkreisen. Das prägt! Entschieden hat sie sich als Lebensmittelpunkt (will man es Heimat nennen?) für Deutschland – anders als Layla, die Protagonistin in ihrem Debütroman.

Layla ist eine junge, moderne Frau, die in Deutschland wohnt. Ihre Mutter ist Deutsche, ihr Vater Saudi. Sie macht eine Buchhandelslehre, lebt in einer WG mit ihrem Freund und ihrem Bruder und das Leben läuft, wie bei jungen Menschen so üblich, in wellenförmigen Bewegungen mal wunderbar im oberen Bereich der Wohlfühlskala, mal unangenehmerweise im unteren … Als es tatsächlich richtig schlecht läuft, die Beziehung zu ihrem Freund Alex zerbricht und sie erfährt, dass man sie in der Buchhandlung nach dem Ende ihrer Ausbildung nicht übernehmen wird, zieht es Layla den Boden unter den Füßen weg und sie verschwindet plötzlich. Das trifft Basil, ihren Bruder, schmerzlich, da die beiden sich extrem gut verstehen und viele Geheimnisse miteinander teilen, quasi ein Herz und eine Seele sind. Basil findet einen Abschiedsbrief und erfährt, dass Layla bereits auf dem Weg nach Kairo ist, um – wie sie es so schön lapidar beschreibt – die Welt zu erkunden.

Eine Idee, die Basil gut findet und auch nachvollziehen kann, auch wenn er traurig ist, dass sie diese Entscheidung komplett ohne ihn gefällt hat und ihn in keinerlei Vorbereitungen miteinbezogen hat. Sein Verständnis endet jedoch abrupt, als Layla, viele Monate nach der akuten Krise und der überstürzten Abreise immer noch auf Reisen, ihm mitteilt, dass sie in Jeddah heiraten werde. Und zwar Rami – einen Saudi.

Der Roman erzählt nicht chronologisch, sondern arbeitet mit Rückblicken. Erzählt wird aus der Perspektive des Bruders, der sich – emotional völlig überfordert, dass seine Schwester das alles offensichtlich wirklich ernst meint – auf den Weg nach Jeddah in Saudi-Arabien macht, dem Ort, an dem er und Layla einst aufwuchsen, im Schoße der arabischen Großfamilie.

Nach und nach erfährt der Leser die Lebensgeschichte der Familie Sayyed – ein bisschen „1001 Nacht“ trifft „Aschenputtel“. Auf alle Fälle märchenhaft! Der intelligente junge Saudi Tarek bekommt die Chance, Medizin zu studieren; als junger Assistenzarzt in Deutschland lernt er die hübsche, blonde Krankenschwester Barbara kennen und sie verlieben sich ineinander und heiraten. Basil und Layla werden geboren, man lebt in Jeddah, ist Teil der Familie dort – doch dann erfahren die Kinder am Ende des alljährlichen Sommerurlaubs in Deutschland, dass es dieses Jahr nicht nur ein Urlaub ist, sondern dass sie bleiben werden. Kein großes Trara, kein Drama à la „Nicht ohne meine Tochter“, sondern alles ganz normal. Vater und Mutter haben die Entscheidung gefällt und starten auch glücklich gemeinsam in Deutschland durch. Tarek machte seine Facharztausbildung an der Uni, die Mutter arbeitete wieder als Krankenschwester – doch dann trifft sie ein herber Schicksalsschlag und Barbara steht alleine mit ihren beiden Kindern da.

Der Kick an der Geschichte ist, dass Basil eine durch und durch deutsche Denke hat und seinen sehr deutschen Filter über alles legt, was er auf seiner Reise in seine „andere Heimat“ erlebt. Klar, er ist halber Saudi – aber sein „erstes Leben“ in Jeddah, all das ist furchtbar lange her. Er studiert in Deutschland, lebt nicht religiös und hat wenige Berührungspunkte mit der arabischen Kultur, doch nun, als er endlich in Saudi-Arabien ankommt, überrollt ihn das bekannte Unbekannte. Basil taucht ein, bleibt aber dennoch außen vor. Er geht zwei Schritte vorwärts und einen zurück. Er ist fasziniert und entsetzt, immer wechselweise. Und Layla, seine coole, kluge Schwester wirft einen mit ihrer lakonischen Art ohnehin um. Weise, wie eine uralte Frau, haut sie Sätze raus, die es in sich haben. Das Spannende an Layla ist, dass ihre Entwicklung atypisch ist: In Deutschland sind wir dem festen Glauben verfallen, dass unsere moderne, freie Lebensweise das Maß aller Dinge ist. Die verhüllten Frauen in den muslimischen Ländern führen uns vor Augen, wie altmodisch und in der Entwicklung weit hinter uns diese Menschen doch leben – und wie bemitleidenswert sie deshalb doch sind.

Und nun kommt diese junge, flippige arabischstämmige Deutsche, die immer ihre Freiheit liebte, die nie religiös lebte, nie ihre arabischen Wurzeln suchte, daher und verlässt freiwillig das Land der tausend Möglichkeiten, das Land, in das unendlich viele Menschen aus islamistisch geprägten Ländern fliehen, in der Hoffnung, hier Schutz zu finden. Layla wählt aus freien Stücken den vermeintlichen Rückschritt und rennt, so empfinden es Basil und allen voran ihre Mutter Barbara, sehenden Auges in das Verderben.

Doch je mehr Momente Basil mit seiner Schwester in Jeddah erlebt, in denen er kurz, aber innig mit ihr reden kann, desto mehr ahnt er, dass er mit dieser Empfindung doch falsch liegen könnte.

„Natürlich hat man dahinten mehr Möglichkeiten“, unterbricht sie [Layla] mich. „Vor allem als Frau. Aber was bringt mir das denn, wenn die Freude darüber fehlt bei den Menschen? Wenn sie stumm und kalt bleiben trotz all ihrer Freiheit und immer nur alles Bekannte wiederholen? Was bringen mir denn die ganzen Möglichkeiten, wenn sie keine Verbindung herstellen zueinander? Wenn man einsam bleibt, in der kleinen, drückenden Stadt, weil man so viele andere Dinge kennt, wenn man nie ganz frei sein kann, weil man sich immerzu entscheiden soll, und auch noch glücklich sein darüber. Wenn du ihnen immer bestätigen sollst, wie froh und dankbar du bist, dass du da sein darfst? […] Die erste Hälfte meines Lebens sollte ich die mysteriöse Wüstenprinzessin sein mit den großen Augen und der Pyramide im Vorgarten. Und dann kam dieser verfluchte 11. September, und wir waren auf einmal alle Terroristen. […]“

Layla entscheidet sich ganz bewusst gegen die vermeintliche Freiheit, in der sie sich doch so oft „gefangen“ fühlte. Ja, ihr Wirkungs-Radius als Frau ist in Saudi-Arabien nach westlichen Maßstäben deutlich geschrumpft – doch es ist ihr egal. Denn sie fühlt sich in den vorgegebenen Strukturen mehr als in der ewigen Entscheidungsfreiheit Deutschlands. Layla fühlt sich nicht beschnitten in ihren Rechten in Jeddah, sondern mehr wahrgenommen als Mensch. Sie hat ihre Aufgabe, ihre Rolle. Diese ist klar definiert. Und so gibt Layla ihre Hand gerne, glücklich und aus freien Stücken ihrem Verlobten Rami und heiratet ihn. Auch wenn ihr Bruder verwundert und ihre Mutter so entsetzt ist, dass sie gar nicht erst aus Deutschland anreist.

Eine hochinteressante Herangehensweise mit völlig neuen Blickwinkeln auf die großen Themen unserer Zeit. Und das alles äußerst modern und lebhaft geschrieben – keine blumige Sprache aus dem Morgenland, sondern knackige Sätze mit hohem Tempo.

Eine klare Leseempfehlung! Liest sich wunderbar weg, auch im Urlaub – trotzdem bleibt viel hängen. Der Nachhall ist groß.

Buchdetails:

  • Aktuelle Ausgabe: März 2017
  • Verlag: DuMont Verlag
  • ISBN: 978-3-8321-6409-6
  • Taschenbuch, kartoniert: 206 Seiten

5 Gedanken zu “Die coole Lady mit dem Schleier

  1. Pingback: Orientalische Tage und Nächte | Feiner reiner Buchstoff

  2. Finde ich schön, sich diesen wichtigen Themen unserer heutigen Zeit in Form eines Unterhaltungsromans zu nähern, zumal da er von einer Autorin geschrieben wurde, die sich tatsächlich auskennt.

    Gefällt 2 Personen

  3. Hallo, schöne Idee mit Lieblingsbücher verschenken . Wir haben den Roman in unserem Lesekreis besprochen, war eine interessante Diskussion. Zuvor lasen wir von Shida Bazyar „ Nachts ist es leise in Teheran“. Dieses Buch ist etwas anspruchsvoller vom Aufbau und der Sprache her, könnte Dir auch gefallen.

    Gefällt 2 Personen

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