„Hohler hat den Atem eines Mannes, der der Qualität seiner Geschichten traut. Er bewegt sich mit so schauriger Grazie auf sein Ziel zu, dass er immer spannend ist …“
Roger Willemsen
Es gibt wenige Menschen, die ich niemals kennengelernt habe und trotzdem seit ihrem Tod vermisse, als wären enge, liebe Freunde von mir gegangen. Ein solcher Mensch ist für mich Roger Willemsen. Seit meiner frühesten Studienzeit war er freitagabends mein Begleiter, den ich gebannt bei der Präsentation seiner Weltklassesendung „Willemsens Woche“ verfolgte – für mich immer noch unerreicht, diese ganz besondere Art und Weise, wie Willemsen seine Interviews führte. Nie von oben herab, immer nur unglaublich neugierig und interessiert. Und immer, wirklich immer, egal, was er machte – er zog mich in seinen Bann. Dieser Mann konnte aus dem Stegreif schöner reden als andere nach Stunden des Überlegens schreiben. Er ist für mich eine Lichtgestalt – und ich könnte mich noch seitenweise darüber ergehen, wie sehr er mir in dieser ganzen Medienlandschaft fehlt, doch eigentlich geht es ja hier gar nicht um ihn (leider!). Aber ich stieß ganz zuletzt bei meiner Lektüre des vorliegenden Romans auf das Zitat Willemsens und war entzückt, somit ein Buch in den Händen zu halten, das mir gefiel und das Willemsen ebenfalls gelesen und für gut befunden hatte. Juchu! Eben doch Seelenverwandte, ich ahnte es ja immer … 😉
Willemsens Ausdruck der „schaurigen Grazie“ gefällt mir sehr, denn das trifft den Stil Hohlers gut. Es ist eine elegante Schreibe, die manchmal tempomäßig in einen behäbigen, gemächlichen Trott verfällt, etwas altmodisch, aber charmant daherkommt und manch einen irreleitet und einlädt, das Werk zu unterschätzen (siehe auch die kritischen Anmerkungen hier).
Aber ich beginne lieber mal von vorne. Und zwar ganz vorne. Was für ein Einstieg:
„Darf ich Ihnen den Koffer tragen?“
Hätte sie geahnt, was dieser Satz für Folgen hatte, sie hätte abgelehnt, höflich, aber entschieden, sie wäre ihrer kleinen Stimme, die sie zu hören glaubte und die ihr zuraunte: „Nicht!“ gefolgt, hätte rechtsum kehrtgemacht und schnellen Schrittes ihren Rollkoffer hinter sich hergezogen, bis ins Bahnhofscafé, um der unerwarteten Freundlichkeit eines fremden Mannes zu entgehen.
Aber natürlich sagt sie nicht „Nein!“, sondern „Oh, danke!“ – und schon ist sie mitten im Geschehen. Sie, das ist Isabelle, Altenpflegerin in Zürich, die eigentlich gerade nach einer Gallenstein-OP zum Genesungsurlaub für zwei Wochen nach Italien fliegen wollte – dort aber nie ankommt, weil sie gar nicht erst in den Flieger steigt. Denn der nette ältere Herr, der ihr so freundlich seine Hilfe anbietet, stirbt nur einen Moment, nachdem er oben auf dem Bahnsteig den Koffer abgestellt hat. Er bricht einfach zusammen – das Herz. Die Polizei kommt zusammen mit den Sanitätern und Isabelle muss erst mal Rede und Antwort stehen, bevor sie einen späteren Zug Richtung Flughafen nehmen kann – und das Flugzeug dennoch verpasst. Bald wird klar, dass sie nicht einfach zur Tagesordnung übergehen kann, zu ungereimt sind die Dinge, die geschehen, seit der Fremde am Bahnhof starb. Durch die Polizei wird der Kontakt zur Witwe des Verstorbenen hergestellt und schnell lässt sich Isabelle leiten von dem Wunsch, dieser Frau zu helfen bei der Aufklärung all der mysteriösen Umstände. Die Witwe ist nämlich Kanadierin, spricht kein Wort Deutsch und weiß nur rudimentär Bescheid, warum ihr Mann so überstürzt in die Schweiz reiste. Eine Beerdigung, sagt Véronique Blancpain, die Witwe. Doch was steckt dahinter, dass Martin Blancpain früher Marcel Wyssbrod (dt. Weißbrot, frz. pain blanc) hieß, in der Schweiz in einer Pflegefamilie groß wurde und schließlich in einer Erziehungsanstalt landete, aus der er ausbrach?
Zusammen mit ihrer Tochter Sarah und der Witwe Véronique begibt sich Isabelle auf Spurensuche in den Schweizer Behördenwelten – an sich schon kein einfaches Unterfangen, doch es wird noch erschwert durch einen älteren Herrn mit dem Allerweltsnamen Meier, der offensichtlich mehr als nur Antipathie für Martin Blancpain hegt …
Hohler breitet vor dem Leser eine anrührende und spannende Geschichte aus, die an manchen Stellen nicht ganz lebensnah wirkt und dennoch oder gerade deshalb einen ganz eigenen Charme und Sog entwickelt. Das 2013 erstmals erschienene Buch hat eine stark konstruierte Geschichte als Thema, wie das auch bei dem 2017 erschienen Titel „Das Päckchen“ (auch hier im Blog besprochen) der Fall ist – es scheint ein Markenzeichen Hohlers zu sein. Das tut meinem Lesevergnügen keinen Abbruch, für mich darf Fiktion auch fiktiv sein und muss nicht immer eins zu eins in der Realität abbildbar sein.
Wer also Spannung auf charmant-altmodisch Weise mit modernen Seitenhieben mag – dem sei „Gleis 4“ sehr ans Herz gelegt!
Buchdetails:
- Aktuelle Ausgabe: 3. Auflage Januar 2015
- Verlag: btb
- ISBN: 978-3-442-74832-7
- Taschenbuch, Broschur: 224 Seiten